Es ist die Sensation schlechthin: Gewonnen hat Jan Wagner mit seinem Gedicht-Band «Regentonnenvariationen». Jan Wagner ist «so ein richtiger Lyriker», um es salopp auszudrücken. Er ist zwar noch verhältnismässig jung, Jahrgang 1971, schreibt aber schon seit vielen Jahren Gedichte. «Regentonnenvariationen» ist Jan Wagners 6. Gedichtband.
Jan Wagner ist bereits bestens in der Lyrik-Szene etabliert. Er ist einer der angesehensten seiner Zunft, mit zahlreichen Preisen dekoriert.
Die überraschende Wahl
Zum ersten Mal seit dem 10-jährigen Bestehen des Preises der Leipziger Buchmesse geht dieser an einen Lyriker. Grundsätzlich sind alle Genres zugelassen – aber dass die Jury einen Gedicht-Band aus den über 400 eingereichten Werken ausgezeichnet hat, spricht entweder gegen die anderen Texte – oder eben sehr für Jan Wagner. Er schreibe «formal virtuos und zugleich unangestrengt», begründet die Jury ihren Entscheid.
Es sind tatsächlich herausragend gute Gedichte, die Jan Wagner in seinem Band «Regentonnenvariationen» versammelt hat: Gedichte über die Natur, fast schon Liebeserklärungen. Über Pflanzen wie man sie kennt (Weidenkätzchen, Morchel, Maulbeeren) oder auch weniger kennt (den Giersch zum Beispiel, das ist ein Unkraut, das auch gegen Gicht hilft).
Es sind Gedichte über Tiere wie das Pferd, Mücken, Koalas oder den Dachshund. Ab und an verlässt Wagner die Natur und wendet sich dem menschlichen Alltag zu, dem vermeintlich Banalen – einem Nagel, Servietten oder Tennisbällen zum Beispiel. Gedichte über eine uns vertraute Welt – mit einem Blick, der das Überraschende in sich trägt.
Lyrik, die ungeahnte Räume öffnet
Beim Lesen der «Regentonnenvariationen» besticht Wagners Sprachlust. Seine Gedichte enthalten überraschende Wendungen, bleiben nicht in einem Raum, in einem Kontext, sondern öffnen Räume, Vorstellungsräume.
Dafür braucht es beim Lesen allerdings ein wenig Phantasie und mehr Lust am Experimentellen als am rein Erzählerischen. Hinzu kommt, dass nicht alle Gedichte gereimt sind, manche Gedichte sind gebrochen durch sogenannte «falsche Reime» wie «Kuchen» und «Küchen».
Dann macht Jan Wagner manchmal mitten im Wort einen Zeilenbruch. Und: Er schreibt alle Wörter klein. All das sind Merkmale der heutigen Lyrik, alles andere gilt heutzutage eher als Poesiealbumslyrik.
Lyrik am Puls der Zeit
Der Vorteil dieser Lyrik am Puls der zeitgenössischen Poetik ist, dass beim Lesen zahlreiche Assoziationen aufgehen. Etwa das Wort «regen»: einmal kann es für den Niederschlag stehen, einmal für das Verb «sich regen», oder es kann auch «rege» heissen – agil, rastlos, geschäftig.
Auf der anderen Seite sind solche Gedichte anstrengender zu lesen als reine Prosa. Wagners Gedichte sind Lyrik für Fortgeschrittene.
Ein Preis mit Signalwirkung
Traditionellerweise ist der Preis der Leipziger Buchmesse ein Preis für ein Buch, dem man mehr Leserinnen und Leser wünscht. Das ist in diesem Fall besonders zutreffend: Lyrik hat es schwer im Buchhandel und bei den Lesern, deshalb ist diese Entscheidung auch eine symbolische: dass die Jury das Genre Lyrik aufwerten will.
Das ist ein Signal für den Buchhandel, der die Bücher verkauft. Ob man allerdings mit einem Lyrik-Band so viele Bücher verkauft, wie es sonst nach einem solchen Preis der Fall ist – sei dahingestellt.
Zwei weitere Preise an der Leipziger Buchmesse
Der Preis in der Sparte «Übersetzung» geht an Mirjam Pressler. Sie wird für ihre Übertragung des Buches «Judas » des israelischen Autors Amos Oz aus dem Hebräischen ausgezeichnet, wie die Jury am Donnerstag mitteilte.
Der Preis ist mit 15'000 Euro dotiert. Amos Oz ging bei der Preisverleihung mit Mirjam Pressler auf die Bühne und sagte, Übersetzen sei wie ein Violinkonzert zu spielen – allerdings auf einem Flügel. Er applaudiere einer grossen Pianistin.
Der Preis in der Sparte «Sachbuch und Essayistik» geht an den Autoren und Kulturwissenschaftler Philipp Ther. Ther wird für das Buch «Die neue Ordnung auf dem alten Kontinent. Eine Geschichte des neoliberalen Europa» ausgezeichnet. Der Preisträger spendet einen Teil seines Preisgeldes in die Ukraine schickt – für ein Hilfsprojekt.