Eine Szene am Strand war der Auslöser. In der Bucht von Positano befindet sich ein junger Mann, den Patricia Highsmith ein paar Augenblicke lang beobachtet. Ein Amerikaner, wie sie vermutet, allein und in Gedanken. Das war alles, nach ihrer Aussage.
Die kurze Szene ist der Schlüsselreiz für einen Roman, der Epoche machen wird. Sein Held ist ein äusserst charmanter Psychopath, ein Aufsteiger ohne Moral, skrupellos aus Prinzip, ein junger Amerikaner, der seine Ziele ohne mentale Reserven verfolgt. Es ist «der talentierte Mr. Ripley».
Eine schweifende Existenz
Keine Reue, keine Rücksichten, die Lüge als Lebensgrundlage – das ist Tom Ripley. Er ist jung, gebildet und mittellos. Ripley will nach oben, ein Leben führen in der Bohème, wie der junge Amerikaner Dickie Greenleaf, dem er sich auf Europareise anschliesst.
Blankoschecks aus Übersee alimentieren eine schweifende Existenz, man verbringt seine Zeit auf Segelyachten und in Luxushotels. Die Täuschung ist Ripleys Plan. Er wird die Identität wechseln, buchstäblich das Leben des anderen führen. Dazu muss der andere weg.
Mörder ohne Gewissen
Tom Ripley wird ihn töten, die Tat nach Plan durchführen. Ein Mörder ohne Gewissen und zugleich eine positive Figur durch und durch, charmant und manipulativ. Das ist das Rätsel und das Geheimnis der Ripley-Romane.
Patricia Highsmith ist 34, als sie die Szene am Strand in Italien verfolgt und den ersten «Ripley» schreibt. Er wird ein Erfolg in den USA und ein paar Jahre später auch in Europa.
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Norm und Abweichung
René Cléments Verfilmung mit Alain Delon als Tom Ripley bringt den endgültigen Ruhm der Figur und seiner Autorin. In Europa wird Highsmith ein Star der Literatur und bleibt es bis zu ihrem Tod im Tessin vor 20 Jahren.
Aufgewachsen in Fort Worth, Texas und in New York, fällt Patricia Highsmith als Achtjährige ein populäres Buch mit psychiatrischen Abweichungen in die Hände. Fallgeschichten über Kleptomanen und andere psychische Erkrankungen. Regel und Ausnahme, Norm und Abweichung, betrachtet im aussermoralischen Sinn.
Sie war nicht nett
Das sind die psychischen Muster, die später die Figur des Tom Ripley begründen. «Gut und Böse sind lediglich ein Vorurteil», schreibt Highsmith in ihr Tagebuch. Da ist die erste Ripley-Geschichte gerade fertig. Und sie notiert: «Wir müssen bezweifeln, dass es einen Lohn der Tugend gibt.»
Patricia Highsmith war exzentrisch. Ihrer über dreieinhalb Jahrzehnte nur leicht alternden Figur darin ähnlich. Sie war lesbisch, Tom Ripley ist latent homosexuell. «Sie war nicht nett», lautet das Fazit einer fast 1000 Seiten dicken Biographie über die Autorin. Ripley ist nett, aber das ist Schein. Er wird später den misstrauischen Mr. Murchison mit einer Weinflasche erschlagen, um seinen Status als Privatier zu sichern.
Immer durch Abstürze gefährdet
Der Mann, der vom Vermögen aus dem ersten Mord lebt, muss weiter töten. So ist es in «Ripley Under Ground», dem zweiten Roman, und in «Ripleys Game», dem dritten. Es geht um Ripleys Verwicklung in einen Kunstfälscherring und um einen Auftragsmord.
Alle diese Morde sind Folgen der ersten Tat. Für Ripley sind sie kein Fluch, sondern immer nur nötige Arbeit am Status. In «Ripley Under Water» ist sein Landsitz in Frankreich Ort des Geschehens. Eine Leiche ist tief im nahen Kanal versenkt, das Leben geordnet und angenehm, als Tom Ripley neue Nachbarn erhält. Es sind Amerikaner und sie sind neugierig.
Patricia Highsmith ist 70, als sie den Schluss der Ripley-Reihe entwirft. In Tegna im Tessin lebt sie da schon wie in einer Festung. Gefährdet durch Abstürze ist ihr Leben zu jedem Zeitpunkt. Das ihres Helden Tom Ripley ist es jetzt auch.