London, Pepys Road: In Nummer 51 wohnt Roger Yount, ein Devisenhändler, mit seiner Familie. Sie leben auf viel zu grossem Fuss, rechnen mit einem Millionenbonus - und ihre ganze Welt bricht zusammen, als er seine Stelle verliert.
In Nummer 68 wohnt Ahmed Kamal aus Pakistan, der einen Gemischtwarenladen führt und dessen Bruder unter Terrorismusverdacht steht. In Nummer 27 lebt Freddy, ein grosses Fussballtalent aus Afrika. Und in Nummer 42 wohnt Petunia, heute eine alte Frau - sie hat ihr ganzes Leben an der Pepys Road verbracht.
Gier macht unglücklich
Jede Hausnummer steht für einen bestimmten Lebensbereich: Bankenwesen, Religion, Profisport, Gesundheitspolitik. Lanchester beschreibt das Leben und den Alltag jedes Protagonisten, jeder Protagonistin, minutiös.
Er zeigt, wie Gier, Egoismus und Angst dazu führen, dass jeder allein und unglücklich ist. Und was in einer so auf Geld fixierten Gesellschaft geschieht, wenn plötzlich kein Geld mehr da ist.
Rückbesinnung auf die wahren Werte
Die wohl deutlichste Wandlung erlebt Roger Yount. Zu Beginn des Romans ist er ein erfolgreicher, selbstgerechter und aalglatter Banker - am Ende besinnt er sich auf die wahren Werte und gelobt, sich zu ändern.
Auch John Lanchester hat sich über die wahren Werte Gedanken gemacht. Für den Autor sind es vor allem Familie und Freundschaft.
Extremer Reichtum, extreme Armut
Im englischen Original heisst der Roman «Capital». Der Titel hat eine zweifache Bedeutung. Er bezieht er sich sowohl auf das Kapital als auch auf die Hauptstadt.
John Lanchester erzählt auch zwei Geschichten: Die eine handelt von einer Gesellschaft, die auf Geld und materielle Werte fixiert ist, die andere von London, das sich laut Lanchester in den letzten 30 bis 40 Jahren massiv verändert hat.
London sei heute ein globales Zentrum, sagt Lanchester. Wenn man zum Fenster hinausschaue, sehe man gleichzeitig extremen Reichtum und extreme Armut.
London als Mikrokosmos der Welt – und die Pepys Road, über die Lanchester schreibt, als Mikrokosmos von London. Lanchester zeigt also im Kleinen, wie das System im Grossen funktioniert.
Ein Roman, der aufrüttelt und unterhält
Mit «Kapital» gelingt John Lanchester ein packendes Panorama der heutigen multikulturellen Gesellschaft und ihrer Abhängigkeit vom Kapitalismus. Manchmal blitzen ein paar Klischees auf, aber die Kombination aus scharfer Analyse und humorvollen, feinfühligen Porträts der eigentlich tragischen Figuren machen den Roman zur empfehlenswerten Lektüre. Lektüre, die beides kann: aufrütteln und unterhalten.