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EIne Katze an einer Hafenmole, dahinter eine Moschee in Istanbul (s/w).
Legende: In Elif Sharaks Roman bricht die Erzählerin auf zu einer Reise in die Vergangenheit: ins Istanbul ihres Stiefvaters. Keystone

Literatur Ein Buch gegen die kollektive Amnesie in der Türkei

Etwa 1,5 Millionen Menschen starben in den Massakern an den Armeniern vor 100 Jahren. Die Türkei weigert sich bis heute, den Genozid anzuerkennen. Die türkische Autorin Elif Shafak widmet sich im Roman «Der Bastard von Istanbul» von 2006 unter anderem diesem Tabu. Jetzt wurde das Buch neu aufgelegt.

Elif Shafak, in Ihrem Roman «Der Bastard von Istanbul» spielt Essen eine wichtige Rolle; und die einzelnen Kapitel sind mit den Zutaten für «ashure», eine aufwändige türkische Süssspeise, überschrieben. Warum?

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Legende: Imago/GlobalImagens

Elif Shafak, in Strassburg geboren, gehört zu den meistgelesenen Schriftstellerinnen in der Türkei. Die Autorin schreibt auf Türkisch und auf Englisch. Ihre in der Türkei teilweise heftig umstrittenen Werke sind in über dreissig Ländern erschienen. Sie lebt mit ihrem Mann und zwei Kindern in London und Istanbul.

Mich interessiert, was an Geschichte und Geschichten hinter dem Essen steht. Die Armenier zum Beispiel haben mit «anusch abur», einem Weihnachtspudding, ein ganz ähnliches Gericht wie «ashure». Zudem konzentriere ich mich in meinem Roman «Der Bastard von Istanbul» auf das Leben von Frauen, türkischen und armenischen, die sich traditionellerweise viel mit Essen beschäftigen.

Essen verbindet Menschen, es durchbricht nationale, ethnische und religiöse Grenzen. Um «ashure» ranken sich ausserdem viele schöne Legenden. Man verwendet dafür auch viele verschiedene Zutaten, die im fertigen Gericht alle ihren Geschmack, ihre Differenz bewahren und gleichzeitig ein Ganzes bilden. Für mich ist «ashure» also auch eine politische Metapher, denn es steht für das Kosmopolitische und Multikulturelle in der türkischen Gesellschaft.

Sie thematisieren in ihrem Roman auch die bis heute tabuisierte «armenische Frage». Was hat Sie dazu bewogen?

Meine Mutter war alleinerziehend und Diplomatin, so lebte ich von Beginn weg ein nomadisches Leben. Ich wurde in Frankreich geboren, lebte dann eine Weile bei meiner Grossmutter in Ankara, später in Madrid, Amman, den USA. Heute pendle ich zwischen Istanbul und London. Irgendwie bin ich also immer eine Aussenseiterin, was keine so schlechte Position für eine Schriftstellerin ist.

Mir fiel zum Beispiel auf, wieviel Verschwiegenes es in der Türkei gibt, vor allem, was die tragischen Ereignisse von 1915 und 1916 betrifft. Und meine intellektuelle Neugier liess mich diesem Schweigen nachgehen. Ich habe viele armenische, türkische und kurdische Familien befragt. Die Geschichten der Alten waren nebst der Lektüre eine wichtige Quelle für mich.

Im Vorwort zur deutschen Neuauflage Ihres Romans schreiben Sie, die Türkei leide unter «kollektiver Amnesie». Warum ist das so?

Die türkische Gesellschaft ist sehr zukunftsorientiert, aber auch geprägt von harten Brüchen. So wurde zum Beispiel in den 1920er-Jahren das arabische durch das lateinische Alphabet ersetzt, und arabische und persische Wörter wurden aus der türkischen Sprache entfernt. In einer Art Tabula rasa sollte das ganze osmanische Erbe getilgt werden.

In unheiliger Allianz mit jenen, die von der Vergangenheit nichts mehr wissen wollen, stehen die Konservativen, die die Vergangenheit verklären und sich alle kritischen Nachfragen verbitten. Für sie ist es undenkbar, die Deportationen, Massaker und Tötungen von 1915 und 1916 zu anerkennen.

Ihr Buch erschien 2006 in der Türkei. Ihnen wurde wegen «Beleidigung des Türkentums» der Prozess gemacht, weil fiktive armenische Charaktere in ihrem Roman von «Genozid» sprechen. Nach anderthalb Jahren wurde das Verfahren eingestellt. Wäre es heute immer noch möglich?

Buchhinweis

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Elif Shafak: «Der Bastard von Istanbul». Neuauflage Kein & Aber, 2015 (Erstauflage dt. Eichborn, 2007).

Wenn es um Meinungsfreiheit geht, hat sich in der Türkei seit 2006 wenig verändert. Um ehrlich zu sein: Jeder türkische Romanautor, jeder Lyriker, jeder Journalist weiss, dass ihn das, was er schreibt, in Schwierigkeiten bringen kann. Wegen eines Artikels, eines Gedichts, eines Romans, manchmal auch nur wegen zwei, drei Worten, eines Tweets oder Retweets kann man im Gefängnis landen.

Deshalb gibt es viel Selbstzensur in der Türkei. Aber es ist sehr schwierig, darüber zu sprechen, weil es so peinlich ist. Nach dem kreativen Aufbruch der Gezi-Proteste kam es zu einem eigentlichen Backlash. Die Gesellschaft ist polarisierter denn je zuvor. Die Menschen leben in Ghettos, es gibt keine Brückenbauer mehr. Der Sinn für Koexistenz in einer pluralistischen Gesellschaft und für demokratische Werte ist uns verloren gegangen.

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