Es war eine mittlere Sensation, als 2015 mit Jan Wagner ein Lyriker den Preis der Leipziger Buchmesse erhielt. 15'000 Euro, ein Lyriker zuoberst auf dem Leipziger Podest – das gab es noch nie! In diesem Jahr bestand zumindest die Möglichkeit, dass die Leipziger Jury noch einen draufgeben könnte: Mit Marion Poschmann war erneut eine Lyrikerin auf der Shortlist. Der Preis ging dann jedoch an Guntram Vesper für den Roman «Frohburg».
Der Siegertext des Ingeborg-Bachmann-Preises 2015
Lyrik geniesst ganz eindeutig eine neue Aufmerksamkeit, nicht nur an der Leipziger Buchmesse, sondern auch anderswo. So ging der mit 25'000 Euro dotierte Ingeborg-Bachmann-Preis für Prosa 2015 an Nora Gomringer, und damit an eine Autorin, die vor allem wegen ihrer Gedichte bekannt ist.
Lyrik im Programm
Es sind derzeit nicht selten Lyrikerinnen und Lyriker, die im Literaturbetrieb für Gesprächsstoff sorgen. So haben in den letzten Jahren gleich mehrere Verlage ihre Lyriksparte ausgebaut. Längst sind es nicht mehr nur Kleinverlage, die Gedichtbände herausbringen. Auch mittlere und grosse Häuser setzen sie regelmässig ins Programm.
Hinzu kommt: Lyrik ist an Literaturfestivals und Literaturtagen präsenter, auch an den Solothurner Literaturtagen 2016. Man baue die Lyrikveranstaltungen aus und entspreche damit dem allgemeinen Trend, sagt Reina Gehrig, die Geschäftsführerin der Literaturtage: «Vor allem bei jüngeren Autorinnen und Autoren ist die Lyrik wieder populärer.»
Die Spoken-Word-Bewegung habe der Lyrik zu Aufwind verholfen. Nicht von ungefähr verzeichnete auch das internationale Lyrikfestival in Basel in diesem Jahr rund 600 Besucherinnen und Besucher – so viele wie noch nie.
Performance fördert Absatz
Wenn ein Autor oder eine Autorin etwa mit Poetry Slams auftritt, spürt man dies offenbar auch beim betreffenden Verlag. Laut Alex Beckmann, Chef des auf Lyrik spezialisierten Wolfbach-Verlags mit Sitz in Münchenstein, gibt es einen direkten Zusammenhang zwischen Auftritten und Auflagezahl: «Wenn ein Autor auch als Spoken-Word-Künstler auftritt, verkaufen wir vom betreffenden Gedichtband statt 50 Exemplaren wie üblich manchmal bis zu zehn Mal mehr.»
Die Ursachen für die derzeitige Aufmerksamkeit, welche die Lyrik geniesst, seien auch bei den Inhalten der modernen Gedichte zu suchen, sagt der Basler Lyrikexperte Rudolf Bussmann, der selbst Gedichte schreibt. Die Lyrik von heute sei weniger politisch als noch in den 1960er- und 1970er-Jahren.
Sie thematisiere beispielsweise vielmehr persönliche Gefühle oder suche nach Erinnerungen. «Die Lyrik von heute ist sehr erzählerisch – und dies auf kurzem, konzentriertem Raum.» Genau dies scheint dem Publikum zu bekommen, das in Gedichten auch eine Möglichkeit sucht, für kurze Zeit der Hektik des Alltags zu entfliehen.
Trend in Grenzen
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Obwohl die Lyrik derzeit auf einer Welle der Popularität reitet, ist ihr der Brückenschlag vom spezialisierten zum breiten Publikum nicht gelungen: In der Deutschschweiz etwa werden pro Jahr lediglich einige Hundert Lyrikbände mehr verkauft als in anderen Jahren. Dies schlägt sich im Massenbetrieb der Literatur statistisch kaum nieder.
In der Deutschschweiz gehen pro Jahr rund 5,5 Millionen belletristische Bücher über den Ladentisch. Nur wenige Promille seien Gedichtbände, schreibt das Marktforschungsinstitut GfK Entertainment. Eine wesentliche Veränderung über die Jahre sei nicht auszumachen.
Lyrik gilt vielen Leserinnen und Lesern offenbar ungebrochen als zu elitär und zu kompliziert. Und so sind auch dem aktuellen Aufwärtstrend in der Lyrik enge Grenzen gesetzt – so sehr ihn Gedichtfans auch beklatschen mögen.
Sendung: Radio SRF 2 Kultur, Kultur kompakt, 4.5.2016, 17:15 Uhr