In Amerika sind die Morde der «Manson Family» noch immer ein Trauma. Sie trafen 1969 Menschen der besseren Gesellschaft. Charles Manson, ein erfolgloser Musiker und äusserst brutaler Herrscher über eine eigene Hippie-Kommune, verfolgte damit die Absicht, einen Rassenkrieg auszulösen. In dessen Folge wollte er die Weltherrschaft übernehmen.
Ausweg aus der Zweckgemeinschaft
An diese verstörenden Ereignisse knüpft der Plot von Emma Clines fiktivem Roman «The Girls» an. Die 14-jährige Protagonistin Evie ist ein vernachlässigtes Mädchen aus gutem Haus. Ihre Eltern sind frisch geschieden. Sie hat eine einzige Freundin, eine Zweckgemeinschaft. Die etwas älteren Jungs, die sie anhimmelt, wollen nichts von ihr wissen.
Da begegnet sie eines Tages der 19-jährigen Suzanne, die einer Manson-ähnlichen Kommune angehört – und es ist um sie geschehen. Evie verliebt sich in Suzanne, auch wenn sie es nicht so nennen würde.
Das grosse Bieten
Emma Clines Debüt ist zwar kein historischer Roman. Aber der Hintergrund, vor dem «The Girls» spielt, wirkt offenbar so stark, dass es in den USA 2014 zu einem Biet-Wettbewerb um das Manuskript der damals völlig unbekannten Autorin kam. Zwölf Verlage bewarben sich um die Rechte – Random House erhielt schliesslich den Zuschlag für einen siebenstelligen Betrag.
Geschmeidig und gedankenlos
Evie ist aus vielerlei Gründen anfällig für die Versprechungen einer Sekte. Sie steckt mitten in der Pubertät, ohne auf die Unterstützung durch ihre Eltern zurückgreifen zu können. Von Jungen und Männern erfährt sie nur Missachtung oder latente Gewalt.
Gleichzeitig wird sie dauernd mit den Anforderungen konfrontiert, welche die Gesellschaft an sie und ihre Geschlechtsgenossinnen stellt, und die sie nicht erfüllen kann: «Ich wartete darauf, dass jemand mir sagte, was gut an mir war.»
Als Evie die «Girls» der Kommune zum ersten Mal sieht, ist es für sie daher sowohl Initiation als auch Emanzipation. Das Selbstbewusstsein der Hippie-Mädchen, die sich schon rein äusserlich um keine Konventionen scheren, haut sie um. Sie beobachtet hingerissen, wie Suzanne und ihr Gefolge eine Bahn durch die «normale Welt» ziehen: «geschmeidig und gedankenlos wie durch das Wasser gleitende Haie».
Verratene Liebe
Es gelingt Evie, Aufnahme in der Kommune zu finden. Nur zu gern glaubt ihr die Mutter die Lüge, dass sie sich bei einer Freundin aufhalte. Beschäftigt mit der Suche nach einem neuen Mann, nimmt sie die Tochter höchstens dann wahr, wenn sie ihr das Dünnsein neidet. Evie gerät schnell in verhängnisvolle Umstände, auch wenn sie nur Stippvisiten auf der Ranch von Russell Haddrick macht, dem nach Charles Manson modellierten Sektenführer.
Den massiven sexuellen Missbrauch durch Haddrick – oder durch Männer, an die er sie wie eine Ware ausleiht – steckt sie weg, als wäre es nichts. Anders steht es um ihre Liebe zu Suzanne, die bald genug von Evie hat und sich von ihr distanziert.
Evie wird nie darüber hinwegkommen. War es nur ihre gutbürgerliche Herkunft, die sie attraktiv machte für die Kommune? War es nur das Geld, das sie ihrer Mutter klaute und einem Nachbarsjungen abpresste? Hielt man sie letztlich doch nicht für würdig, ein Haddrick-Girl zu sein?
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In einer Blase gefangen
Als Haddricks Jüngerinnen losfahren, um einem Musiker in Los Angeles einen Denkzettel zu verpassen, der in einer Mordorgie mündet, darf Evie nach langem Betteln mit. Doch dann schmeisst Suzanne sie unterwegs aus dem Auto. Noch als ältere Frau fragt sich Evie, warum. Die Frage plagt sie fast noch mehr als jene, ob auch sie gemordet hätte.
Festgehalten werden Evies Erlebnisse im Sommer 1969 von der Frau, die sie nie werden wollte: einsam und verlebt, ohne Beruf und festen Wohnsitz. Und genau das ist die eigentliche Sensation in diesem sprachlich opulenten und gesellschaftlich präzisen Roman: dass er die Geschichte eines Menschen erzählt, der keinen guten Weg ins Erwachsenenleben fand und für immer in einer Blase gefangen bleibt.