Einmal im Jahr wird das österreichische Dorf Heidenreichstein – nahe der tschechischen Grenze – zum Mittelpunkt von Literaturprominenz. Pünktlich zu Festivalbeginn stand ein sichtlich gerührter Ian McEwan auf der Bühne der Mehrzweckhalle in Heidenreichstein. McEwan dankte für die grosse Ehre, zwei Tage lang die ganze Aufmerksamkeit des Publikums zu erhalten. Gleichzeitig gab er aber auch bescheiden zu bedenken: «Es tut einem Autor nicht unbedingt gut, so stark im Mittelpunkt zu stehen.»
Die Bewohnerinnen und Bewohner von Heidenreichstein hätten das vor zehn Jahren kaum zu träumen gewagt: Dass weltberühmte Schriftsteller wie der britische Bestseller-Autor den Weg zu ihnen in die Provinz finden.
Damals überlegte sich eine Handvoll Leute, wie man kulturell auf ihr Dorf aufmerksam machen könnte. Ein prominenter Einheimischer schlug die Gründung eines Literaturfestivals vor: der ehemalige österreichische Kulturminister Rudolf Scholten.
Seine Idee wurde mit Kopfschütteln quittiert: «Literaturfestivals gibt es doch wie Sand am Meer. Und zu uns aufs Land kommt eh kein Publikum.» Scholten liess sich nicht beirren und konterte, dass es halt auf das Programm ankomme; mit attraktiven Namen könne man durchaus Leute nach Heidenreichstein locken.
Salman Rushdie machte den Anfang
Und Rudolf Scholten schaffte es, einen prominenten Freund für das Projekt zu gewinnen: Salman Rushdie. Ein Jahr später kam ein anderer Weltautor aus Scholtens Bekanntenkreis ins Waldviertel: Amos Oz. Damit war der Teppich gelegt; seither hat sich Heidenreichstein mit internationalen Literaturstars profiliert. Und das mit einem ungewöhnlichen Konzept. Während zwei Tagen wird nur ein einziges literarisches Werk ausgeleuchtet, dafür aber in seiner ganzen Tiefe.
Damit schwimmt «Literatur im Nebel» bewusst gegen den Strom des Zap-Zeitgeistes und setzt auf Vertiefung, statt auf Oberflächlichkeit. Rudolf Scholten ist überzeugt, dass damit ein echtes Bedürfnis abgedeckt wird. Sicher arbeite unsere Aufmerksamkeit in immer kürzeren Abschnitten, sagt er, «aber das ändert nichts an der Tatsache, dass es eine Sehnsucht nach zu Ende erzählten Geschichten gibt, und dass diese Sehnsucht selten erfüllt wird.»
Szenische Lesungen
Das Geschichten-Erzählen wird bei «Literatur im Nebel» sehr ernst genommen. Professionelle Schauspielerinnen und Schauspieler lesen die Texte vor – zum Teil auch mit verteilten Rollen. Sie schaffen es, Literatur auf der Bühne zum Leben zu erwecken. Zum Konzept gehört ebenfalls, dass junge Autorinnen und Autoren sich in den Dienst des jeweiligen Stargastes stellen und ihrerseits dessen Texte präsentieren.
Ian McEwans Literatur eignet sich besonders gut für szenische Lesungen, weil er in seinen Geschichten immer wieder die Abgründe in zwischenmenschlichen Beziehungen thematisiert. Die Schweizerin Bettina Hering, derzeit Intendantin am Landestheater Niederösterreich, ist jeweils für die Textauswahl, Besetzung und Dramaturgie am Festival zuständig. Sie leistete auch dieses Mal hervorragende Arbeit.
Dreimal sass Ian McEwan sogar selber auf dem Podest. So unterhielt er sich mit seinem Freund und Schriftsteller-Kollegen Daniel Kehlmann und las sehr berührend aus seinem jüngsten Roman vor: «Children’s Act». Der erscheint im Januar unter dem Titel «Kindeswohl» auf Deutsch.
Tickets auf dem Schwarzmarkt
Sendebeiträge
Längst hat sich «Literatur im Nebel» einen Platz im österreichischen Kulturkalender erobert: Die Karten waren auch dieses Mal innert Tagen ausverkauft und sollen auf dem Schwarzmarkt zum Teil heiss begehrt gewesen sein.
Rund 700 Gäste haben in der Mehrzweckhalle Platz, wo sämtliche Veranstaltungen stattfinden. Das Publikum ist bunt gemischt; zum Teil reist es aus der Hauptstadt an, zum Teil kommt es aus Heidenreichstein und Umgebung. Und zum Charme des Festivals trägt zweifellos bei, dass viele Einheimische auch hinter den Kulissen aktiv sind.
Ein Feigenbaum für Ian McEwan
Ian McEwan dankte in seinem Schlusswort allen Beteiligten für den grossen Einsatz: «Diese zwei Tage waren absolut faszinierend und einzigartig für mich.» Wie auch seine prominenten Kolleginnen und Kollegen in den früheren Jahren hat er keine Gage erhalten.
Aber sein Besuch hinterlässt bleibende Spuren – nicht nur in den Köpfen des Publikums, sondern auch im Naturpark Heidenreichsteiner Moor. Dort wurde nämlich in diesen Tagen als symbolisches Honorar ein Feigenbaum gepflanzt – extra für ihn.
Und dieser wächst nun in unmittelbarer Nähe des Ahorns von Margret Atwood, der Buche von Jorge Semprun und der Esche von Salman Rushdie.