In seiner Heimat ist der 33-jährige Emrah Serbes Kult. Sein literarisches Debüt, die beiden Krimis um Kommissar Behzat Ç., wurde als Fernsehserie zum Strassenfeger. Und auch Serbes' drittes Buch, der Erzählband «erken kaybedenler» («Die frühen Verlierer»), ist ein Bestseller in der Türkei.
Als letzten Sommer erst in Istanbul und dann im ganzen Land Bürgerproteste ausbrachen, gab es bald überall Behzat Ç-Graffitis. Serbes' anarchisch ehrliche Romanfigur war für die Aktivisten einer der ihren. So sehr, dass sie seinen Namen augenzwinkernd mit «Çapulcu» vervollständigten. «Çapulcu», «Marodeure» – mit diesem Begriff hatte der damalige Ministerpräsident Erdogan die Protestierenden zu diskreditieren versucht.
«#Emrah Serbes ist nicht allein»
Emrah Serbes selbst wurde zu einem Wortführer der Gezi-Proteste – und riskierte viel. In einem Fernsehauftritt etwa verballhornte er Erdogans zweiten Vornamen. Aus «Tayyib» machte er «Tazyik» («Druck») und spielte damit auf die Wasserwerfer an, mit denen die Regierung gegen die Protestierenden vorging. Es brachte ihm eine Anklage wegen Majestätsbeleidigung ein. Strafandrohung: zwölf Jahre Gefängnis.
Sofort tauchten neue Graffitis auf, mit der Twitter-Botschaft «#Emrah Serbes yalnız değildir» («#Emrah Serbes ist nicht allein»). Im November 2013 wurde der streitbare Autor freigesprochen. Leicht wird er es in der Türkei trotzdem nicht mehr haben. Aber er will bleiben. Und das ist auch für seine Leserinnen und Leser gut so. Vergnüglichere und berührendere Einblicke als in Serbes' Büchern bekommt man in das 75-Millionen-Land sonst kaum.
Gesellschaftliche Pulsmessungen und ergreifend komische Plots
Gerade in «erken kaybedenler» von 2009, nun unter dem Titel «junge verlierer» auf deutsch erschienen, zeigt sich Emrah Serbes' Stärke, gesellschaftliche Pulsmessungen mit ergreifend komischen Plots zu verbinden. In den acht Erzählungen haben ganz gewöhnliche Jungen und Jugendliche das Wort. Gemeinsam sind ihnen Verluste, Verletzungen, Ängste und Beschränkungen, über die sie sich in einer Sprache hinwegbluffen, die viel erwachsener ist als sie selbst.
Damit haben sie einen beim Lesen in der Tasche, auch wenn sie den starken Mann markieren und mit Sentenzen um sich schleudern. Ihre Sprache ist nicht authentisch, ihre Ansichten sind es meist ebenso wenig. Aber gerade weil Emrah Serbes die Regeln psychologischen Erzählens ausser Kraft setzt, geht einem unter die Haut, was diese Jungs umtreibt und was ihnen widerfährt.
Vielfach aufgeladene Geschichten
Es kann die Tragödie sein, dass nur entweder Eimer oder Lastwagen mit in den Strandurlaub dürfen, den die Eltern sich eigentlich gar nicht leisten können. Es kann die Trauer um den gefallenen älteren Bruder sein, die in Wut auf alles und jedes umschlägt. Es kann der Verrat an einer schüchtern aufkeimenden Liebe sein, aus lauter Angst und Dummheit. Es kann moralische Verblendung sein, die fast zu einem Mord führt und doch nur pubertärer, aber nicht minder bitterer Einsamkeitsgefühle geschuldet ist. – Hinter dem, was sich abspielt, zeigt sich durch die Erzählweise immer auch, warum es sich abspielt.
Emrah Serbes' Geschichten sind vielfach aufgeladen – mit kritischer Analyse der Verhältnisse in der Türkei, aber auch mit den grundsätzlichen und universellen Bedingungen der menschlichen Existenz. Wie die Jungs es rüberbringen, mag manchmal – natürlich unfreiwillig – irrwitzig sein. Dass das Leben ihnen nicht bieten kann, was sie sich wünschen, wissen sie aber alle – und halten einem damit einen Spiegel vor. Der Waisenjunge in der Erzählung «Omas erster Tod» bringt es auf den Punkt: «Was wäre schon das Leben, wenn man sich nicht selbst etwas vormachen könnte? Wer ist schon mit den nackten Tatsachen zufrieden? Wenn man kein Derwisch oder ausgemachter Idiot ist, kann man die Dinge nicht akzeptieren, wie sie sind. Ohne bestimmte Ereignisse zu verkleinern oder aufzublasen, kann man gar nicht leben.»