Sie ist nicht tot. Ihre Zeit endet nur mit dem Sprung aus dem Fenster einer Münchener Privatklinik. Es ist ihr Bilanzsuizid in der Psychiatrie, nach einem exaltierten, am Ende völlig misslingenden Leben.
Das Todesdatum ist der 13. Mai 1992. Ein Affekt, endgültig. Aber, Gisela Elsner ist nicht tot. Die «Unberührbare» wird wiedergeboren, im Kino, im Film «Die Unberührbare» (2000) ihres Sohnes Oskar Roehler.
Die Zeit der Nierentische und Tütenlampen
Hannelore Elsner ist da ihre Wiedergängerin. Elsner und Elsner sind nicht verwandt. Sie, die Schauspielerin mit der Kleopatra-Perücke, ruft die Andere, die Schriftstellerin, mit grosser Geste ins Leben zurück, in eine Wirklichkeit, die plötzlich sternenweit entfernt ist. Der Film erscheint im Jahr 2000.
Gisela Elsner und Lady Gaga, die Ähnlichkeit ist frappant und führt doch in die Irre. Klar, Elsners Zeit sind die Sixties, die 60er Jahre des vergangenen Jahrhunderts.
Eine Zeit, die so weit zurück liegt, dass man schon daran zweifeln kann, ob es sie wirklich gegeben hat. Die Epoche der Nierentische und Tütenlampen, die Zeit von Pop als Aufbruch, Restauration und rheinischem Kapitalismus als neudeutschem Modell.
Die giftigen Zwerge des Wirtschaftswunders
«Wo sind wir?», wird man fragen. Die Antwort ist: «Am Grossen Wannsee, in West-Berlin.» Im Oktober 1962 tagt dort die Gruppe 47 und Gisela Elsner hat ihren ersten grossen Auftritt. Eingeführt in die berühmte Literaturloge hat sie ihr Ehemann Klaus Roehler, Schriftsteller und Lektor von Günter Grass.
Sie liest aus «Die Riesenzwerge». Es ist ihr erster Roman und wird zugleich ihr erfolgreichster werden. Ein «Beitrag», wie sie das Buch etwas unbescheiden nennt. Der Plot: Der Vater ist Direktor bei Siemens, der Schwiegervater besitzt eine Fabrik für Gartenzwerge. Und das ist kein Witz. Der Roman beschreibt die «Riesen» der Aufbaujahre allesamt als giftige «Zwerge» des Wirtschaftswunders, sein Personal als notorische Spiesser, die ebenso gierig wie pedantisch ihren kleinbürgerlichen Gelüsten nachjagen.
Allein gegen alle
Es ist ein heute verschollenes Panoptikum, halb Groteske halb «Nouveau Roman», das Gisela Elsner in ihrer Geschichte um Lothar Leinlein ausbreitet. Typen wie bei George Grosz, kühl geschildert wie von Flaubert oder Nathalie Sarraute. Und: Lothar Leinlein ist ein Zwerg, kein Gör wie «Zazie», ein böses Kind, klein wie Oskar Matzerath in der «Blechtrommel» und mindestens ebenso enervierend.
Das Motiv: Hass. Ein unbändiger Hass der 27jährigen Debütantin auf alles Bürgerliche – die eigene grossbürgerliche Herkunft nicht ausgenommen. Gisela Elsner will Aussenseiterin sein, todernst ist es ihr mit diesem Rollenmodel, das sie auch später nicht aufgibt.
Allein gegen alle und gegen alles. Ab 1977 wird sie Mitglied der DKP und bleibt es. Es ist ihr ziemlich langer Flirt mit Lenin, mit der Partei, mit der DDR. Es ist ein Phantasma.
«Eine Humoristin des Monströsen»
Immer radikal, immer gegen den Strom, so inszeniert sie sich und ihre Bücher. Da sind Texte wie Befreiungsliturgien. Sie treffen ihre Zeit. Sie zielen mit der literarischen Schrotflinte auf die Verhältnisse und so treffen sie alles, was in ihre Schusslinie kommt.
Aber die Befreiung bringen sie nicht. Eine «Humoristin des Monströsen», das sei sie, befindet Hans Magnus Enzensberger und ist begeistert. «Ein Monster», findet ihr Sohn, «eine Analphabetin» Marcel Reich-Ranicki.
Der unmerkliche Bruch
Gisela Elsner erregt Skandal. In ihrem durchinszenierten Leben mit Perücke und Kajalstift, Tablettensucht und Alkohol - und in ihren ebenso abgründig trostlosen Büchern. Aber da gibt es den unmerklichen Bruch. Nach 1968 sind ihre Texte schon wie aus der Zeit gefallen, leicht antiquiert wirkt jetzt ihr vehement verquerer Blick auf Verhältnisse, die sich zusehends schneller verändern.
Elsner gerät ins Abseits, kaum spürbar zuerst, bei weiteren Erfolgen, wie dem Roman «Das Berührungsverbot» von 1970, dann rasch und ohne Umkehr, als 1989 die Mauer fällt.
Die Geschichte unserer Gegenwart
Gisela Elsner ist tot. Sie vegetiert allein in ihrer Wohnung. Ein paar einsame Jahre noch. Als ihre Todesanzeige im Mai 1992 im «Spiegel» erscheint, hat der Rowohlt Verlag ihr Werk schon verramscht. Für Verleger Michael Naumann ist das ein «normaler Vorgang» damals.
Nicht normal ist die Wiederentdeckung dieser Vergessenen, die der Berliner «Verbrecher Verlag» jetzt vorantreibt. Ihr Leben und ihre Bücher sind ein Zoom in die Geschichte unserer Gegenwart. Das ist hart und schön zugleich.