Sein letzter grosser Auftritt fand im deutschen Parlament statt. Am 27. Januar 2012 hielt er dort die Gedenkrede auf die Opfer des Nationalsozialismus. Kein Historiker spricht dort in einer Rede an die Nation, sondern ein Zeitzeuge, ein Überlebender des Warschauer Ghettos. Er spricht von einem Tag im Juli 1942. Es ist der Tag, an dem die Deportation der Warschauer Juden in die Vernichtungslager beginnt. Marcel Reich-Ranicki wird der Verfolgung entkommen, er wird die Zeit der Gewaltherrschaft überleben, aber diese Erfahrung wird sein ganzes Leben fortdauern.
Beispiellose Karriere als Literaturkritiker
Geboren am 2. Juni 1920 als Sohn deutsch-polnischer Eltern in polnischen Wloclawek, wächst Reich-Ranicki in Berlin auf. Kurz nach dem Abitur im Herbst 1938 wird er verhaftet und nach Polen deportiert. Nach seiner Flucht aus dem Ghetto geht Reich-Ranicki in den Untergrund. Nach dem Krieg folgen Tätigkeiten im Diplomatischen Dienst in Polen, Arbeiten für Zeitungen, den Rundfunk, für einen Verlag und als Übersetzer.
Sendungen zu Marcel Reich-Ranicki
- Diskussion mit Hans Mayer und Friedrich Dürrenmatt (Juni 1965) Diskussion mit Hans Mayer und Friedrich Dürrenmatt (Juni 1965)
- Reich-Ranicki und Dürrenmatt: Brand auf dem Studiotisch Reich-Ranicki und Dürrenmatt: Brand auf dem Studiotisch
- Sein letztes literarisches Quartett («Tagesschau», 14.12.2001) Sein letztes literarisches Quartett («Tagesschau», 14.12.2001)
- Reich-Ranicki verweigert den Deutschen Fernsehpreis (13.10.2008) Reich-Ranicki verweigert den Deutschen Fernsehpreis (13.10.2008)
- Reich-Ranicki spricht vor dem Bundestag (27.01.2012) Reich-Ranicki spricht vor dem Bundestag (27.01.2012)
- Marcel Reich-Ranicki ist gestorben (Kulturplatz, 18.9.2013) Marcel Reich-Ranicki ist gestorben (Kulturplatz, 18.9.2013)
Eine beispiellose Karriere als Literaturkritiker, die weit über die Grenzen des Metiers hinausreicht, beginnt ab 1959 mit der Übersiedelung in die Bundesrepublik Deutschland. Reich-Ranicki wird Kritiker bei der «ZEIT» in Hamburg und ab 1973 Literaturchef bei der «FAZ» in Frankfurt am Main. Er ist Mitglied der «Gruppe 47» und initiiert Ende der siebziger Jahre den renommierten «Ingeborg- Bachmann-Preis» in Klagenfurt. Bis Anfang der neunziger Jahre ist er zudem Gastprofessor für deutsche Literatur an Universitäten in den USA, Schweden und Deutschland.
Viele Freunde – und fast ebenso viele Feinde
Der Literaturkritik schafft Reich-Ranicki eine Stellung in der Öffentlichkeit, die selten ist. Kritik wird wichtig, sie wird wahrgenommen, sie entscheidet auch über literarischen Erfolg oder Misserfolg. Es geht um Macht, Markt und Publikum. Das schafft ihm viele Freunde und fast ebenso viele Feinde. Gelegentlich auch beides in einer Person, in verschiedenen Phasen seines Lebens. Peter Handke gehört früh zu seinen Widersachern und Martin Walser, noch zuletzt mit seinem Roman «Tod eines Kritikers».
Marcel Reich-Ranicki will urteilen über Bücher. Er will polarisieren, das Pro und Contra in der Literatur, das Lob oder den Verriss. «Lauter Lobreden» und «Lauter Verrisse» heissen zwei seiner bekanntesten Buchtitel treffend. Immer wieder betont er, dass es ihm um das Publikum gehe, um die Lust am Lesen, um seine persönliche und begründete Empfehlung für relevante Literatur. Witz, Scharfsinn und die Lust an der platzierten Pointe werden sein Markenzeichen im literarischen Leben der Republik. Das rollende «R», seine spezifische Diktion und seine Neigung zur gelungenen Geste tun ein Übriges.
Autobiografie wird zum Bestseller
So wird er, mit nur leicht ironischem Unterton, zum «Literaturpapst» ernannt und durch seine Fernsehsendung «Das Literarische Quartett» im ZDF schliesslich Kult. Eine Leitfigur selbst bei denen, die sich sonst kaum für Literatur interessieren. Den «Deutschen Fernsehpreis» für sein Lebenswerk lehnt er im Herbst 2008 allerdings ab, noch während der Sendung, unter Hinweis «auf den Blödsinn, den wir hier heute Abend zu sehen bekommen haben».
1999 ist die Autobiografie «Mein Leben» erschienen. Sie ist ein Bestseller, der zehn Jahre später auch verfilmt wird. Roman Polanski oder Steven Spielberg hätte er sich dafür als Regisseur gewünscht. Das Buch zeigt einen anderen Reich-Ranicki. Nachdenklich, bisweilen auch melancholisch. Gelassen, sachlich fast blickt einer auf sein Leben zurück, auf kuriose Wendungen und Brüche, auf Jahrzehnte lange Freundschaften auch, die plötzlich verloren sind. Mit Joachim Fest, dem Freund und Herausgeber der Frankfurter Allgemeinen Zeitung ab 1973 kommt es über den sogenannten «Historikerstreit» zum Bruch. Die enge Freundschaft mit Walter Jens erhält Risse, durch Angriffe, die auf Reich-Ranickis Agententätigkeit im polnischen Geheimdienst zielen.
«Ich war nie glücklich»
Viele Jahre seines Lebens hatte er an seinem Literatur Kanon gearbeitet. Tausende Seiten sind zwischen 2002 und 2006 erschienen. Die für Marcel Reich-Ranicki wichtigsten Romane, Erzählungen, Dramen, Gedichte und Essays der deutschsprachigen Literatur. Nach dem Tod seiner Ehefrau Teofila, die er im Warschauer Ghetto geheiratet hatte, im April 2011 wird es stiller um Marcel Reich-Ranicki. Im März dieses Jahres macht er eine Krebserkrankung öffentlich.
In einem Gespräch mit der Hamburger «ZEIT», wird 2010 eine wachsende Distanz Marcel Reich-Ranickis zur Gegenwart deutlich. Gewisse Züge einer Bilanz auch , Revisionen und etwas Bitternis. Stolz auf sein Lebenswerk sei ihm fremd. Stolz überhaupt ein unbekanntes Wort und die Freude an der Literatur nicht mehr die gleiche. Und er schliesst: «Ich bin nicht glücklich. Ich war es nie in meinem Leben. Ich war es nie.»