Der Tramp spaziert am Ufer eins Flusses. Er ist am Ende. Man sieht ihm an, dass ihn nichts mehr am Leben hält. Da sieht er einen betrunkenen Millionär, der gerade versucht, sich das Leben zu nehmen. Der Tramp erschrickt, greift ein und sagt den entscheidenden Satz: «Tomorrow the birds will sing.» Der Millionär bricht zusammen und weint. Und überlebt. Der Tramp fällt ins Wasser.
Selbstmörder kommt Selbstmörder zu Hilfe
Diese tieftragische und tiefkomische Szene aus dem Chaplin-Film «City Lights» ist der Ursprung des Romans «Zwei Herren am Strand» von Michael Köhlmeier. Nicht, dass sie im Roman vorkäme oder auch nur zitiert würde. Aber ihr Thema ist auch Thema des Romans: Selbstmörder rettet Selbstmörder.
Als Figuren für seine Geschichte wählt Köhlmeier den grössten Schauspieler und den grössten Staatsmann ihrer Zeit: Charlie Chaplin und Winston Churchill. Nicht nur, weil sie sich tatsächlich gekannt und tatsächlich unter Depressionen gelitten haben, sondern weil sie zu den wenigen Menschen gehören, die aus ihrer Zeit heraustreten und etwas Mythisches an sich haben. Wie griechische Helden. Wie Shakespeares Könige. Kein Mensch interessiert sich dafür, wie Richard II wirklich war. Aber als Figur taugt er schon.
Ein Pakt gegen Hitler und die Depression
So auch Chaplin und Churchill: Beide schliessen einen Pakt gegen die Depression, gegen den schwarzen Hund, wie sie in diesem Roman genannt wird – und gegen Hitler. Den grossen Diktator, dem sie so ähnlich sind. Gegen den kämpfen sie auch. Der eine mit Lachen, der andere mit Krieg.
Der Kampf gegen die Depression ist kompliziert. Die Methode komplex. Es geht um Distanzschaffung: Wie der spiegelnde Schild der Athene, der Perseus hilft das Medusenhaupt zu sehen und auch abzuschlagen, ohne zu Stein zu erstarren. Genau so finden die beiden Herren am Strand indirekte Wege, sich der Sache zu stellen. Das Gespräch über Selbstmord zum Beispiel. Das Lachen. Das Weinen.
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Distanz durch eine weitere Geschichte
Auch Köhlmeier schafft Distanz. Mit der Konstruktion. Er verpackt die Geschichte der Selbstmordkandidaten Chaplin und Churchill in eine weitere Geschichte. In die vom liebenden Vater und seinem Sohn.
Der Sohn ist der Ich-Erzähler. Der Vater ein trauriger Mann, der seine Frau verloren hat. Auch er kämpft. Seine Art der Distanzschaffung ist das Schreiben einer Biografie.
Man könne das Leben besser meistern, wenn man das Leben eines anderen beschreibt, sagt er und schreibt eine Churchill-Biografie. Auch pflegt er jahrelang einen Briefwechsel mit Churchills privatestem Privatsekretär. Dieser Briefwechsel wird eine der wichtigsten Quellen dieses Buches. Eine andere ist ein Interview, das der 80-jährige Chaplin einem Journalisten gibt. Ob es die Briefe tatsächlich gibt und ob das Interview wirklich stattgefunden hat, ist völlig egal. Genauso egal wie ein allfälliges Tagebuch Richard II für das Verständnis eines Shakespearestücks.
Es geht um was anderes. Der Vater und der Sohn brauchen Trost. Sie schaffen sich mit Chaplin und mit Churchill ihre Trostfiguren. Genauso wie Köhlmeier, der mit «Zwei Herren am Strand» ein Trostbuch geschaffen hat. Für sich und für uns.