Sechs Bände mit insgesamt 3600 Seiten umfasst das norwegische Original des monumentalen autobiografischen Projekts Karl Ove Knausgårds. In seiner Heimat veröffentlichte er die Bücher in dichter Folge zwischen 2009 und 2011. Er eroberte damit in ganz Skandinavien die Bestsellerlisten. Auch im deutschsprachigen Raum, wo kürzlich der vierte übersetzte Band mit dem Titel «Leben» erschienen ist, wächst die Leserschaft.
Im Sog der Erzählung
Knausgård, geboren 1968 in Oslo, schildert sein Leben als Kampf. Im ersten Band mit dem Titel «Sterben» kämpft er gegen seinen Vater, im zweiten («Lieben») mit der Erfahrung, selbst Vater zu werden. Und im dritten («Spielen») schildert er seine Kindheit. Auch sie ist ein Kampf: Sie war für Knausgård offenbar die reinste Hölle.
Mit welchem Band man zu lesen beginnt, ist egal. Die meisten, die zu Knausgårds Büchern greifen, machen dieselbe Erfahrung: Dass man sich ihnen nicht mehr entziehen kann, wenn man erst einmal zu lesen begonnen hat. Der Sog, den Knausgård zu entwickeln vermag, ist sprichwörtlich.
Die Kraft der Erinnerung
Knausgård fasziniert seine Leserinnen in erster Linie durch die radikale Offenheit und Ehrlichkeit, die er in seinen Büchern an den Tag legt. Er scheint sich an das hinterste und letzte Detail in seiner Vergangenheit zu erinnern. Und er scheut sich auch nicht davor, es in bisweilen epischer Länge zu erzählen. Im vierten Band «Leben» schildert er mit akribischer Genauigkeit, wie er als 18-Jähriger nach dem Abschluss des Gymnasiums für ein Jahr in den hohen Norden Norwegens zieht. Er will dort als Lehrer Geld verdienen.
Minutiös berichtet er von seiner Überforderung im Beruf, von seinem Traum, ein grosser Schriftsteller zu werden, von seinem Freiheitsdrang, den er mit viel Alkohol zu stillen versucht, von seinen sexuellen Frustrationen. All die alltäglichen Banalitäten, die der junge Mann erlebt, sind mit einer ausserordentlichen Plastizität geschildert.
Der Knausgård-Moment
Vor diesem Hintergrund erstaunt nicht, dass beim Leser früher oder später der Gedanke auftaucht: «Genau so verläuft auch mein Leben!» Dieses Phänomen ist in der Zwischenzeit so stark verbreitet, dass es einen eigenen Begriff dafür gibt: den Knausgård-Moment.
Zum Erfolg der Bücher trägt aber zweifelsohne auch die darin verwendete Sprache bei. Knausgård schreibt messerscharf, mit schlanken und wenig verschachtelten Sätzen. Er setzt Teilsatz an Teilsatz. Einer baut auf den anderen auf und bringt eine stets suchende, jedoch eingängige und ruhig voranschreitende Sprachmelodie zum Klingen.
Öffentlich blossgestellt
In Norwegen ging die Erstveröffentlichung der sechs Bände mit Skandalen einher. Mehrere der detailliert beschriebenen Verwandten Knausgårds taten sich schwer damit, in der Öffentlichkeit bis in alle Privatheit blossgestellt zu werden.
So erwirkte etwa ein Onkel per Gericht, dass er in den Romanen zumindest nicht mit seinem richtigen Namen genannt wird. Und Knausgårds Frau befielen psychische Probleme, als sie die Manuskripte zu lesen bekam.
Fiktionalisierungen trotz allem
Karl Ove Knausgård veröffentlichte schon 1998 und 2004, also vor dem grossen autobiografischen Werk, zwei stark fiktional angelegte Romane. Bereits diese wurden von der Kritik gut aufgenommen. In den folgenden Jahren stürzte der Schriftsteller jedoch in eine Schaffenskrise. Beenden konnte er sie nach eigener Aussage erst durch den Entschluss, «einfach aufzuschreiben, wie es war».
Allerdings enthält auch die sechsbändige Autobiografie fiktionale Elemente. Insbesondere die häufigen Dialoge, an deren genauen Wortlaut sich Knausgård nicht erinnern konnte, sind weitgehend künstlerisch gestaltet. Gerade in diesen Passagen zeigt sich jedoch die schriftstellerische Meisterschaft des Norwegers. Mit grosser, bisweilen an Anton Tschechow erinnernder Kunst reduziert Knausgård die Dialoge so, dass das Ungesagte schliesslich wichtiger erscheint als das Gesagte. Die eigentliche Aussage erschliesst sich zwischen den Zeilen.
Das Ich-Projekt
Knausgårds Werk entspricht zweifelsohne dem Zeitgeist. Für viele Menschen der modernen Welt ist die Zurschaustellung des Privaten, Alltäglichen und Banalen im Internet und in den sozialen Medien ein Teil der eigenen Identität.
So gesehen entspricht der Norweger mit seinem «Ich-Projekt» einer offenbar weit verbreiteten Verdrossenheit dem Fiktiven gegenüber. Breite Leserschichten scheint es in der virtualisierten Welt von heute nach der vermeintlichen Authentizität des strikt Biografischen zu dürsten.
Problematische Anlehnung an Hitler
Knausgårds autobiografische Serie heisst im Original «Min kamp I-VI» – zu Deutsch «Mein Kampf». Da im deutschsprachigen Raum dieser Titel aufgrund des gleichnamigen Werks Adolf Hitlers stark vorbelastet ist, haben die Bände in der deutschen Übersetzung andere Überschriften.
Die Titelgebung «Min kamp» hat jedoch auch in Skandinavien Kritiker auf den Plan gerufen. Sie sei reisserisch, war zu lesen. Dem steht gegenüber, dass sich Knausgård im noch nicht auf Deutsch erschienen sechsten Band in einem längeren Essay mit dem Nationalsozialismus auseinandersetzt. Auch kann der problematische Titel als ironische Brechung von Hitlers Buch verstanden werden. Die Frage jedoch bleibt: Funktioniert diese allfällige Ironie – oder ist sie nicht doch an den Haaren herbeigezogen oder gar schlicht geschmacklos?
Auch wenn Knausgård seiner Reihe mit dieser Titelgebung wohl kaum einen Gefallen getan hat, bildet das Werk zweifelsohne ein beachtliches literarisches Ereignis. Die Art und Weise, wie Karl Ove Knausgård gerade auch im neusten auf Deutsch erschienenen Band «Leben» auf Augenhöhe mit seinen Leserinnen sein Leben rekonstruiert, bleibt in jedem Fall einzigartig.