Ich bin gerne in Deutschland. Vor allem, wenn ich dort was Aufregendes zu tun habe. Herausforderungen wie Interviews führen auf Rügen, die trotz katastrophaler Zugverbindungen pünktlich beginnen sollen, oder Diskussionsrunden in Leipziger Vorortszügen über Migrationsfragen – ohne dabei allzu grossen körperlichen Schaden zu nehmen. Oder dann: Berichten von der Frankfurter Buchmesse und dabei auch noch die Literatur zu erwähnen. Letzteres ist gar nicht so einfach, denn an der Frankfurter Buchmesse geht es um alles – ausser um Literatur.
Erst Buchmesse – dann Nikolaus
Trotzdem steht sie wieder an. Die Frankfurter Buchmesse öffnet ihre Tore. Morgen Abend. Und bis am Freitagabend, wenn die Berufsleute die Messe fluchtartig wieder verlassen, weil dann nämlich die richtigen Leser aus dem richtigen Leben nach Frankfurt kommen, werde auch ich wieder in Frankfurt sein.
Das ist seit Jahren so. Und mittlerweile gehört die Messe zu meinem Jahresablauf wie Weihnachten und Ostern. Übrigens auch für meine Nächsten. Als ich vor ein paar Jahren mal aus Frankfurt zuhause anrief, verkündete mir meine damals noch sehr kleine Tochter voller Stolz, dass jetzt Buchmesse sei und dass danach der Nikolaus komme. Seither verzichte ich auf Literaturgespräche mit Kleinkindern, ausser wenn es um Pippi Langstrumpf geht. Aber ich schweife ab.
Frankfurt beginnt in Basel
Für mich beginnt Frankfurt immer schon in Basel. Am Basler Bahnhof, wenn ich den Zug nach Norden besteige. Mit dabei zwei grosse Taschen, zwei Aufnahmegeräte und sechs Bücher. Die sechs Bücher sind die nominierten des deutschen Buchpreises, der am Abend im Frankfurter Römer verliehen wird, und mit dessen Sieger ich ein Interview führen soll. Ebenfalls mit dabei: ein gutes Dutzend Mitreisender.
Verleger, Agenten, Journalisten, Autoren, die alle schon seit Zürich im Zug sind und darum einen gewissen Vorsprung haben. Sie haben sich bestens eingerichtet und sitzen nun hinter der «Zeit» verschanzt und tun so, als seien sie echte deutsche Intellektuelle.
Die ersten wirklich echten deutschen Intellektuellen steigen aber erst in Freiburg ein. Sie wuchten ihre Koffer auf die Gepäckablage, öffnen eine Bierdose, schlagen die «Bild»-Zeitung auf und lesen dort erst mal den Sportteil.
Günter Grass und das schlechte Gewissen
Übrigens: auf der Frontseite der «Zeit» ist an diesem Montag immer ein Bild von Günter Grass zu sehen. Immer. Ich weiss nicht, ob es an seinem Schnurrbart liegt oder an einem unverdauten Vaterkomplex meinerseits, aber sobald ich dieses Bild sehe, habe ich ein schlechtes Gewissen. Und so rede ich mir ein, zu wenig auf das Siegergespräch vom Abend vorbereitet zu sein, packe die sechs Bücher aus, und beginne mit dem völlig sinnlosen Versuch, bis Frankfurt die sechs Bücher nochmals zu lesen.
Frankfurt erreiche ich normalerweise eine Stunde zu spät. Warum weiss ich nicht. Es muss irgendwie mit der Strecke zwischen Basel und Frankfurt zu tun haben. Seit Jahren geht irgendwo unterwegs eine Stunde verloren. Das ist aber nicht so schlimm wie auf der Strecke zwischen Hamburg und Frankfurt, wo normalerweise drei bis vier Stunden verloren gehen. Am schlimmsten ist es auf der Strecke zwischen Berlin und Frankfurt, wo die Züge gewöhnlich in Potsdam stehen. Nicht so unser Zug, der erreicht Frankfurt. Allerdings genau so, dass der für den Termin im «Römer» zwar noch reicht, aber nur mit allergrösstem Stress.
Feierabend und das normale Leben
Dann Buchpreis. Dann Interview. Dann Schneiden. Dann Feierabend. Und dann sitze ich mit dem Techniker in einer Quartierkneipe. Der Techniker ist keiner, der sich hinter der «Zeit» verstecken würde. Das schätze ich an ihm. Und das deutsche Bier schätze ich auch. Sehr. Vor allem das am späten Abend in einer völlig un-hippen Quartierkneipe. Und das ist dann der Moment, der mich sagen lässt: Ich bin gerne in Deutschland.