Anton heisst der Erzähler in Norbert Gstreins aktuellem Roman «Eine Ahnung vom Anfang». Er ist Gymnasiallehrer in Tirol. Eines Tages glaubt er, auf einem Zeitungsfoto, das einen vermeintlichen Bombenleger zeigt, seinen einstigen Lieblingsschüler Daniel zu erkennen.
Diese Entdeckung löst bei ihm einen Erinnerungsschub aus, eine Art Selbstbefragung: die Erinnerung an einen Sommer, den er zehn Jahre vor dem Bombenfund mit Daniel und dessen Freund Christoph an einem Fluss verbrachte. Ein Sommer der Unschuld: Man redet, badet, angelt, lässt die Zeit still stehen. Anton und Daniel kommen sich näher – eine homoerotische Freundschaft, die nicht weiter ausgeführt wird, und die vor allem darin besteht, dass Anton Daniel Lektüre-Empfehlungen gibt, um ihn zu prägen und seinen Lebensweg zu beeinflussen: Darunter «Der grosse Gatsby» von F. Scott Fitzgerald, «Himmel über der Wüste» von Paul Bowles, «Die Schlafwandler» von Broch oder «Der Fremde» von Albert Camus.
Abwendung vom Lehrer, hin zum Endzeitprediger
Daniel nimmt jedoch andere Wege, als sein Lehrer es sich für ihn wünschte: Er reist nach Israel und kommt mit mysteriösen Verhaltensweisen zurück. Er sucht die Nähe eines amerikanischen Endzeitpredigers, der sich mit seiner Familie in der Gegend niedergelassen hat. Kurz: Er entzieht sich Antons Einfluss.
Als schliesslich die Bombe gefunden wird, neben der ein Zettel liegt, auf dem steht: «Kehret um! Erste und letzte Warnung!», gibt Anton sich die Schuld. Denn er glaubt, Daniel habe die Bombe gelegt und er habe ihn über die Bücher auf den Weg des Terroristen gelenkt. Dass die Bombe sich als Attrappe herausstellt, ist nur eine der falschen Fährten, die Norbert Gstrein in seinem Roman legt. «Eine Ahnung vom Anfang» ist ein komplexer, tiefgründiger Roman, der sich zugleich spannend wie ein Krimi liest.
Gstreins Lese-Biografie
Bei Norbert Gstrein sind es die Bücher, die einen Jugendlichen zum Terroristen machen, nicht die Computerspiele. Dass Bücher einen vielleicht nicht gerade zum Terroristen machen, aber doch das Leben eines Menschen nachhaltig prägen, ist unstrittig. Doch welche Bücher haben eigentlich Norbert Gstrein durch seine Jugend begleitet?
«Am Anfang meines Lese-Lebens war ich ein Blindsuchender», sagt der Autor. «Ich las alles, was ich im Hotel meiner Eltern finden konnte. Das waren entweder Bücher, die Gäste zurückgelassen hatten oder Bücher aus einer Buchgemeinschaft, alles Bestseller ohne grossen literarischen Anspruch. Mit 12, 13, 14 Jahren las ich eine ganze Menge: Konsalik, Simmel, häufig auf der Suche nach sog. ‹Stellen›. Ein grosser Teil meiner Sexualerziehung kommt aus der Trivialliteratur, meine Vorstellung davon, wie das ist mit dem anderen Geschlecht, kommt aus der Trivialliteratur.»
Von der Trivialliteratur zu den Klassikern
Dann irgendwann kam die Ambition, so Gstrein, «jetzt das Richtige lesen zu wollen», den literarischen Olymp zu erklimmen. Doch sei sein Leseverhalten erst einmal verdorben gewesen und so habe er das alles mit grossem Widerstand gelesen – Kafka sogar mit grosser Abneigung, die dazu geführt habe, dass er Kafka nie wieder zur Hand genommen habe: Einfach «weil ich gegen diese Abneigung nicht anlesen will», sagt Gstrein.
Und dann kamen die Entdeckungen. Thomas Bernhard war für Norbert Gstrein so eine Entdeckung. Und vor allem: William Faulkner.
Die «Suche auf einem weiten freien Gelände» der Literatur, wie Gstrein es ausdrückt, brachte Entdeckungen – und Widerstand. Widerstand gegen die im Deutschunterricht empfohlenen Bücher, in Form der gelben Reclam-Heftchen. Als sein erstes Buch bei Suhrkamp erscheinen sollte, in der edition suhrkamp – der berühmten «Regenbogen-Reihe» – schrieb Norbert Gstrein einen Bittbrief an Siegfried Unseld: «Bitte bloss kein gelbes Buch!» stand darin.