Peter Bichsel, entsprechen Sie Ihren eigenen Vorstellungen eines 80-jährigen Mannes?
Ich habe mir das Alter schon anders vorgestellt, irgendwie älter und vor allem ein bisschen gemütlicher. Die Gemütlichkeit habe ich immer noch nicht erreicht.
Etwas mehr Gemütlichkeit haben Sie aber dennoch in Ihr Leben gelassen. Ende 2014 haben Sie Ihre letzte Kolumne geschrieben. Warum eigentlich?
Ich habe den Überblick über die einzelnen Texte längst verloren – nach so vielen Kolumnen. Dazu kommt die Angst, sich zu wiederholen: Die Angst, immer wieder das Gleiche zu schreiben. Ich hatte jedes Mal Mühe, wenn wieder ein Kolumnen-Band gedruckt wurde, die Fahnen zu lesen. Ich hatte das Gefühl, es sei immer wieder dieselbe Kolumne. Es ist auch ein Verzicht. Ich habe ein Leben lang Kolumnen geschrieben und darunter gelitten. Und es ist mir ein Leben lang, schon bei der ersten Kolumne, nichts eingefallen. Das war wirklich eine Plage – aber eine Plage, die ich haben musste, an die ich mich gewöhnt habe.
Jetzt setze ich mich hin und schaue, ob ich es ohne aushalte. Und wenn nicht, dann schreibe ich wieder etwas. Vielleicht wieder mal eine längere Erzählung. Aber fragen Sie mich nicht, ob ich Pläne habe. Ich habe keine.
Keine Pläne, aber vielleicht Inspiration?
Ach, ich halte nicht viel vom Wort Inspiration. Ich hätte es gerne mal erlebt, inspiriert zu sein. Ich habe das nie erlebt. Ich habe geschrieben, weil ich schreiben wollte. Das Problem war nicht die Inspiration, das Problem war weisses Papier – und das musste vollgeschrieben werden, damit es nicht mehr weiss ist.
War es wirklich nur die Dringlichkeit, das weisse Papier mit Buchstaben zu füllen?
Ich glaube, ich bin kein sehr leidenschaftlicher Mensch. Nein, eigentlich musste es nicht sein. Bei Max Frisch, da musste es sein. Der musste schreiben. Bei mir war es nie ein Müssen, bei mir war es ein Wollen. Ein dauernder Versuch, ob ich es kann.
Das Wunderbare an diesem Geschäft ist, dass es von Anfang bis zum Schluss ein dilettantisches Geschäft bleibt. Das ist ein grosser Luxus in unserer Zeit, in der jeder sich immer weiter fortbilden muss und es immer mehr Fachleute gibt. Der Schriftsteller ist kein Fachmann. Als Schriftsteller arbeitet man sich ständig am gleichen Problem ab: dass einem nichts einfällt. Ein wunderbares Problem. Weil sich die Frage stellt: Was wäre, wenn? So entsteht Literatur.
Zurück zu den Kolumnen: Über 1000 haben Sie geschrieben. War das die wöchentliche Ration Literatur fürs Volk?
Es ging mir immer um die Mischung zwischen Literatur und sachlichem Text, wo Politisches erzählbar gemacht wird. Vielleicht kann man dies als mein persönliches Langzeit-Forschungsprojekt anschauen: Die Frage, was eigentlich Erzählen ist. Warum erzählt man, wie erzählt man? Ich bin überzeugt, dass Erzählen uns am Leben erhält. Denn wer sich selbst nichts mehr erzählen kann, ist tot. Vielleicht machen Schriftsteller ab und zu Vorschläge, wie man sich erzählen könnte. Das wäre dann einer der Sinne der Literatur.
Was denken Sie über das Wort Ruhestand?
Ich stelle mir das sehr schön vor. Aber ich weiss nicht, wie man das macht. Nein, eigentlich wir sind nicht auf dieser Welt, um im Ruhestand zu leben. Natürlich bleiben die Sorgen, das Dilemma. Selbstverständlich gibt es nach diesem Leben kein Leben mehr, es gibt kein Leben nach dem Tod. Denn Leben heisst Dilemma. Denn Himmel stell ich mir deshalb furchtbar langweilig vor, und trotzdem halte ich mich für einen religiösen Menschen.
Gibt es in Ihrem Leben etwas, das Sie noch unbedingt lernen wollen, zu dem Sie bis jetzt einfach noch nicht gekommen sind?
Ja, Handörgeli spielen.
Peter Bichsel gab das Interview für die SRF-«Tagesschau».