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Portrait Philip Roth
Legende: Philip Roth studierte ein paar Semester Jurisprudenz, entdeckte dann aber die Literatur. Keystone

Literatur Radikal rücksichtslos – Autor Philip Roth wird 80

Seit seinem Erstling «Goodbye, Columbus» von 1959, der gleich mit dem «National Book Award» ausgezeichnet wurde, hat Philip Roth 31 Romane veröffentlicht, die allesamt Furore machten – als Spiegel nicht nur der amerikanischen Gesellschaft, sondern menschlicher Irrungen und Wirrungen überhaupt.

Ein Autor, der flüssig und lesbar schreibt? Nein, das musste er nicht haben: Im «Du»-Heft zum 70. Geburtstag von Philip Roth 2003 beschreibt der amerikanische Schriftsteller Jeffrey Eugenides, wie er Roth des Mainstreams verdächtigte und deshalb am College nicht las: «Wir assoziierten Grösse mit Schwierigkeit, gebrochenen Handlungssträngen, experimentellen Formen und mithin kommerziellem Misserfolg.»

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Und da war also einer, der gleich mit seinem ersten Buch («Goodbye, Columbus») und gerade mal 26jährig, den renommierten Literaturpreis der USA kassierte, den «National Book Award», und mit seinem Zweitling, «Portnoys Beschwerden», einen internationalen Bestseller landete. Das ging ja wohl nicht mit künstlerisch rechten Dingen zu. Doch es kam der Tag, an dem auch Jeffrey Eugenides anfing, Philip Roth zu lesen und feststellen musste: «Von Beginn an war Roths Stimme so fliessend und umgänglich, dass es war, als packte er einen beim Kragen.»

Eine Berufung aus dem Nichts

Es war Philip Roth wohl kaum in die Wiege gelegt, Schriftsteller zu werden. Er wuchs in Newark, New Jersey auf, als Enkel jüdischer Einwanderer aus Osteuropa, die nur jiddisch sprachen. Als Sohn eines Vaters, der sich zum leitenden Angestellten einer Versicherungsfirma hochgearbeitet hatte, aber nicht ohne Fehler schreiben konnte und höchstens mal die Zeitung las. Bücher gab es in Roths Elternhaus nicht, aber unverbrüchliche Familienbande, ein hohes Bewusstsein der eigenen Herkunft und die Liebe zu Amerika. Philip Roth schrieb einmal über seinen Vater, der kaum Schulbildung hatte, aber einen durch fast nichts zu erschütternden Lebensmut und –willen: «Erzählen ist die Form, die sein Wissen annimmt, und sein Repertoire ist nie besonders gross gewesen: Familie, Familie, Familie, Newark, Newark, Newark, Jude, Jude, Jude. Fast so wie bei mir.»

Der verhinderte Jurist

In einem Interview erzählte Philip Roth einmal, dass er keine Ahnung hatte, was er werden wollte, aber dachte, als Anwalt könne er seinem ausgeprägten Gerechtigkeitssinn folgen. Schon als Kind hatte ihn die Frage von «Gleichheit und Gerechtigkeit in Amerika» beschäftigt, was, so vermutete er später, auch mit seiner jüdischen Herkunft zu tun hatte und mit den Diskriminierungen, die mehr noch als er selbst seine Eltern und Grosseltern erlebten. Als Jurist wollte er also «auf dem Pfad von Wahrheit und Gerechtigkeit wandeln», studierte auch tatsächlich ein paar Semester Jurisprudenz, entdeckte dann aber die Literatur.

Im Wespennest stochern

Bereits mit seinem ersten Buch allerdings, dem Kurzroman und den fünf Erzählungen, die 1959 unter dem Titel «Goodbye, Columbus» erschienen, erregte Philip Roth Anstoss. In seiner schon damals unvergleichlichen Mischung aus ätzender Satire und zärtlicher Anteilnahme schrieb er über jüdische Ehebrecher und jüdische Drückeberger – und über Sex. Aber auch über christliche Antisemiten – und über Liebe. Über den Graben zwischen einer Mittelklasse, die den amerikanischen Traum für sich realisiert hatte und den kleinen Leuten, die noch immer mit einem halben Fuss in ihren Herkunftsländern standen, wie etwa im Einwandererviertel Newark, in dem er selbst aufgewachsen war. «Gleichheit und Gerechtigkeit in Amerika als ein Wespennest also, in dem Philip Roth bis heute stochert, immer eminent politisch, immer radikal rücksichtslos gegen sich selbst und andere.

Geschichten als Spiegel

Die Geschichten, die Philip Roth erzählt und dabei fast jede Moral über Bord wirft, sind Selbsterkundungen und Selbstentblössungen genauso wie Chroniken der amerikanischen Gesellschaft der letzten 70 Jahre. Spiegel, in denen wir uns alle wiedererkennen können. Sei es im frühen Bestseller «Portnoys Beschwerden», den schrill komischen Verlautbarungen eines Muttersöhnchens auf der Psychoanalytiker-Couch, changierend zwischen herzergreifend obszöner Onanisten-Beichte und nicht minder herzergreifendem Leiden an der Ungerechtigkeit der Welt und der eigenen Kläglichkeit. Sei es in «Der menschliche Makel», dem Roman, den viele für Roths besten halten und der mit fehlgeleiteter «Political Correctness» und sozialer Ausgrenzung mitten in der beschwingten Clinton-Ära abrechnet. Sei’s in «Nemesis», dem Roman, mit dem sich Philip Roth vergangenen Herbst selbst in Pension geschickt hat.

Der Skandal des Lebens

«Nemesis» sei sein letztes Buch, liess Philip Roth im Oktober 2012 in einem Interview mit der französischen Zeitschrift «Les Inrocks» verlauten und später von seinem Verlag bestätigen. Die Bestürzung unter Literaturbegeisterten war gross, und doch ist «Nemesis» ein würdiges Finale einer langen, einer einzigartigen Schriftstellerkarriere. Kein Skandal zwar, wie in der Vergangenheit so oft, dafür ein Buch über den Skandal des Lebens. Roth kehrt in «Nemesis» in die 1940er Jahre zurück, in die Zeiten seiner Kindheit in Newark.

Eine Polio-Epidemie wütete damals im Viertel und versetzte die Menschen in Angst und Schrecken. Einen Impfstoff gab es noch nicht, die verkrüppelnde Krankheit konnte jede und jeden treffen, und sie wurde zum Inbild menschlicher Ohnmacht. Einer Ohnmacht, gegen die der Sportlehrer Bucky Cantor ankämpft, indem er sich vermeintliche Schuld auf die Schultern lädt - Schuld, seine Schüler angesteckt zu haben - und sinnlose Busse tut: Er weist fortan alle menschliche Nähe zurück und fristet sein Leben in völliger Einsamkeit als verbitterter Krüppel. Eine Figur, wie sie vielleicht nur Philip Roth erfinden konnte – auch, weil man diesen Bucky Cantor, so befremdlich und unangenehm er einem sein mag, unweigerlich ins Herz schliesst.

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