Die Annexion der Krim und der seither andauernde Krieg im Osten der Ukraine zerstören nicht nur ein Land und seine Leute, sondern machen auch viele im Westen ratlos. «Auf der Krim ist es warm, es gibt Wein und ein Klima wie am Mittelmeer», schwärmt der Schriftsteller Viktor Jerofejew. «Deshalb ist die Krim seit Katharina der Grossen ein Sehnsuchtsort der russischen Intelligenzia.»
Das sei keine Rechtfertigung von Putins Expansionspolitik. Er wolle damit bloss erklären, warum dieser Flecken Erde derart begehrt sei. Erschwerend komme hinzu, dass die Krim erst seit 1954 zur Ukraine gehöre. Sie wurde unter Chruschtschow der damaligen Ukrainischen SSR zugeschlagen. Und Putin hätte sie sich jetzt halt – zur Begeisterung – zurückgeholt.
Von Gott gegeben
Was im Westen vielen verwerflich erscheint, sei in Russland Courant normal. Es gebe eine Tradition der starken Männer, deren Verhalten sich tradiere, unabhängig davon, wie das Land gerade heisse oder welche Staatsform es offiziell pflege.
«In Russland glauben die Leute nicht, dass die Macht vom Volk kommt. Sondern dass sie dem Präsidenten oder dem Patriarchen – die Kirche und der Staat sind im Wesentlichen dasselbe – von Gott übertragen wird», sagt Jerofejew. «Einige meiner Freunde aus der Kindheit sind inzwischen im Kreml tätig, und die glauben das auch. Sie als Propagandisten der Herrschenden schaffen den Bezug zwischen der grossen Idee, also Gott, und dem Volk.»
Der gute Stalin
Viktor Jerofejew vergleicht Russland gerne mit dem Iran – die Länder seien sich sehr ähnlich. Die Zensur jedoch greife im Iran sehr viel stärker ein. «Die Moskauer Schönheit» – seine Autobiografie, mit der Jerofejew im Westen Bekanntheit erlangte – ist im Iran verboten. Das Buch durfte mit Ausnahme eines einzigen Satzes aber erscheinen. Im gestrichenen Satz schreibt Jerofejew, dass sein Vater «keine diplomatischen Beziehungen mit Gott» pflegte.
Das versteht sich von selbst, denn sein Vater Wladimir Jerofejew war Stalins Übersetzer aus dem Französischen. Für den Sohn, den jungen Viktor, war Stalin also nicht in erster Linie ein Diktator, der Millionen Menschen in den Tod schickte, sondern jener Mann, der dem Vater Arbeit gab und so die Familie ernährte.
Vom russischen Volk ist nichts zu erwarten
«Natürlich war der Stalinismus eine historische Katastrophe», sagt der Dichter unmissverständlich in der Sendung Sternstunde Philosophie, «aber in gewissen Kreisen war die Zeit unter Stalin eben auch die Zeit des magischen Totalitarismus.» Eine Zeit, deren Auswirkungen bis heute spürbar seien: «Im Unterschied zum deutschen oder italienischen Totalitarismus hatte der russische immer etwas Magisches, etwas Märchenhaftes. Man glaubte und träumte von einer Zukunft ohne Neid und Missgunst, die der Kommunismus herbeiführen würde.»
Heute gehe es mit Russland bergab, das sei völlig klar, sagt Jerofejew. Doch 85 Prozent der Russen glaubten, sie seien den Europäern spirituell überlegen. Vom Volk sei also nichts zu erwarten. Eine Revolution würde bloss dazu führen, dass die Faschisten an die Macht kämen: «Das mag wie aus dem 18. Jahrhundert klingen, aber so ist es.
Die einzige Möglichkeit wäre, dass wie früher in der Sowjetunion jemand von innerhalb des engen Zirkels zum Reformer und somit zur Lichtgestalt würde. Das könnte vielleicht dereinst Medwedew sein, auch wenn es zurzeit nicht danach aussieht.»