Ich bin ein Kind der DDR und doch keines. So auch Stefan Heym. Ich bin geboren in Leipzig und als die Wende kam, war ich 9 Jahre alt. Stefan Heym wurde am 10. April 1913 in Chemnitz geboren und beim Ende der DDR war er 76. Ich bin kein Kind der DDR, weil ich nie bewusst in diesem Staat gelebt habe. Stefan Heym ist keines, weil er die damaligen politischen Zustände Zeit seines Lebens in Frage gestellt hat: «Meine Bemühungen richteten sich bis zum Ende darauf hin, die DDR zu erhalten, allerdings eine andere DDR.» (Stefan Heym zum «Rheinischen Merkur», 2000)
Einer, der es gewusst hatte
Meine Jugend, also die Jahre, in denen man anfängt, sich eigene Gedanken zu machen, war geprägt von der Nachwendezeit: die Zeit, als unsere Eltern, Lehrer und grösseren Geschwister die DDR schon nicht mehr nur weit von sich stiessen, sondern als der eine oder andere sich schon wehmütig (und mit verhaltenem Zorn in der Stimme angesichts der aktuellen politischen Lage) an die «gute alte Zeit» erinnerte.
Wir haben erst als Teenager angefangen, Stefan Heym zu lesen: «Ahasver», «Der König David Bericht», seine Memoiren «Nachruf». Und lasen ihn als einen, der es gewusst hatte. Einer, der für den Sozialismus war, aber nicht in der Ausprägung, wie er in der DDR – oder in den anderen sozialistischen Staaten – Realität war.
Absichtsvolle Literatur
Stefan Heym gehörte für uns zum «Fähnlein der Aufrechten». Typ: couragierter Systemkritiker. Einer, der geblieben war und sich nie den Mund hatte verbieten lassen. Wir hofften, wir wären genauso geworden – hätte die DDR noch so lange bestanden, bis wir zu mündigen Erwachsenen herangewachsen wären.
Zudem liessen sich seine Bücher ganz wunderbar lesen: Sie haben eine eingängige Sprache, verschleiern Idee und Zweck nicht, sind sinnlich und politische Stellungnahme in einem. Heyms Bücher waren absichtsvoll. «…Heym [hat] niemals verheimlicht, dass ihn vor allem Politisches interessiert und dass ihm an der Kunst nur wenig, hingegen an dem, was man Breitenwirkung nennt, sehr viel gelegen ist. Im Grunde verwendet er die epische Form lediglich als Verpackung und Vehikel für zeitkritische Befunde und polemisch gemeinte Diagnosen.» (Marcel Reich-Ranicki in «Die Zeit», 1972)
Oder anders ausgedrückt: Es ging Stefan Heym um etwas. Und in erster Linie wollte er seine Leser nicht politisch umerziehen, sondern zum selbstständigen Denken anregen. Gegen Parteidoktrinen hat er sich immer gewendet; er war nie Mitglied der SED. Dafür immer ein Kritiker politischer Systeme. Und das Zeit seines Lebens.
«Wer in der DDR etwas ändern wollte, musste bleiben»
Nach der Flucht aus Nazideutschland und einigen Jahren in den USA übersiedelte Heym 1952 in die DDR. Aus Überzeugung. Und aus Überzeugung blieb er in diesem Staat, immer darauf bedacht, mit aktiver und unverstellter Urteilnahme die Entwicklungen, Zustände und Skandale des real existierenden Sozialismus anzuprangern. Um an einer Verbesserung des Systems zu arbeiten.
Von der DDR-Staatsmacht wurde er als Dissident bezeichnet und behandelt. Seine grosse Popularität als Schriftsteller nicht nur im eigenen Land, sondern auch im Ausland, verschonte ihn vor schlimmeren Repressalien wie die Bespitzelung durch die Stasi und Behinderung bei den Veröffentlichungen seiner Arbeiten.
Wäre alles ganz anders gekommen?
Wir hatten nach der Wende unbeschränkten Zugang zu all dieser «unliebsamen» Literatur, die sich unsere Eltern nur auf Umwegen besorgen konnten, beispielsweise auf der Buchmesse in Leipzig: Man verliess die Messeräume, die Taschen der vorsorglich angezogenen, weiten Mäntel vollgestopft mit Büchern, die in der DDR nicht zu kriegen waren. Gestohlen hinter dem Rücken, aber mit dem wohlwollenden Wissen der westdeutschen Verlagsangestellten, die nichts verschenken durften.
Und wir erkannten bei der Lektüre, dass die DDR viele ihrer besten Leute mundtot gemacht oder vertrieben hatte. Denn tätige Kritik wurde nicht zugelassen. Wir »Wendekinder« fragten uns daher natürlich, wie die DDR sich entwickelt hätte, wenn Andersdenkende nicht aus der Öffentlichkeit getrieben worden wären.
Und das führt heute auch sicher dazu, dass so mancher der sozialistischen Idee gerne noch eine Chance geben würde und das ideologische Konzept nicht durch 40 Jahre missbräuchliche Ausprägung als durchgefallen betrachtet.
«Wir müssen schon versuchen, selber etwas zu tun»
In seinen Büchern und Romanen hat Heym sich nicht nur als Kritiker politischer Systeme hervorgetan. Er untersuchte auch immer die Rolle derer, die in den Systemen leben. Die Frage, ob die Betroffenen – und im Speziellen: die Intellektuellen – die Wahrheit kundtaten, die die Obrigkeit mit Zensur und Manipulation aus Geschichte und Gegenwart ausmerzen wollte, zieht sich durch viele seiner Werke; am deutlichsten vielleicht im «König David Bericht».
Tätige Politik fing bei ihm am Stammtisch an, dort, wo sich der «einfache Bürger» eine Meinung machte und - ganz wichtig! - sie öffentlich kundtat. Stefan Heym legte damit die Verantwortlichkeit für die Zustände nicht nur auf die Schultern «derer da oben», sondern nahm jeden Menschen ins Gebet, sich als mündiger Mensch zu erweisen, der Macht und Einfluss qua seiner Meinung, seiner Stimme hat.
Aktuell bis heute
Und das ist für mich letztendlich das Zeitlose, das Aktuelle in Heyms Büchern, losgelöst von aller DDR-, Stalinismus- oder Kapitalismuskritik. 1993 sagte Heym anlässlich seiner Auszeichnung mit dem Jerusalem-Preis: «Ich glaube an das ahasverische Prinzip der Dialektik. Ich glaube an den ewigen Rebellen, den Ahasver, der, obwohl immer wieder zu Boden geschlagen durch die Kräfte der Reaktion und der Barbarei und durch die Unmenschlichkeit des Menschen seinem Mitmenschen gegenüber, sich trotzdem erhebt, um den ewigen Kampf wieder aufzunehmen für das neue Utopia.»
So hat einer der erfolgreichsten DDR-Schriftsteller mir zur Überzeugung geholfen, dass es nicht erst das Leben in einem Unrechtsstaat wie die DDR braucht, um sich als bewusster und freier Mensch zu verhalten, der – wie seinerzeit Stefan Heym – an ein Ideal glaubt.