Die Hauptfigur in Ihrem autobiografischen Roman «Die verborgenen Ufer» hat eine Leseschwäche. Heute sagt man dazu Legasthenie. In Ihrer Kindheit hatten die Lehrer – das beschreiben Sie eindrücklich – dafür kein Verständnis.
Christian Haller: Nein, meine Leseschwäche wurde einfach zur Kenntnis genommen. Mit dieser Art Schwäche wusste man damals noch nicht umzugehen. Das war einfach ein Defekt, den jemand hatte. Ich musste also selber einen Weg finden, damit zurechtzukommen.
Wann haben Sie gemerkt, dass Sie Mühe haben mit den Buchstaben?
So richtig manifest wurde es in der dritten Klasse. Am schlimmsten war es, wenn mich der Lehrer aufforderte, vor der Klasse aus dem Lesebuch vorzulesen. Das war eine unglaubliche Qual, weil ich es einfach nicht konnte. Zudem war meine Rechtschreibung katastrophal. In der Primarschule hatte ich allerdings noch Glück. Wenn es ein Diktat gab, sagte der Lehrer zu mir: «Lass es und lies was.» Es hatte schlicht keinen Sinn, dass ich das Diktat mitschrieb, weil ich erstens nicht verstand, was der Lehrer vorlas und man es zweitens gar nicht entziffern konnte.
Haben Sie Tricks oder eine Strategie entwickelt, um mit der Leseschwäche klarzukommen und in der Schule mithalten zu können?
Ja, ich habe versucht, Rechtschreibung zu üben. Auf einer späteren Stufe in der Bezirksschule habe ich ganze Diktate bis auf das letzte Komma auswendig gelernt. Ich habe dann nur noch drauf geachtet, möglichst gleich schnell zu schreiben, wie der Lehrer diktiert hat. Meine Leistungen ausgleichen konnte ich dagegen mit meiner Begabung für das Rezitieren von Texten. Im Vortragen von Gedichten war ich richtig gut. Das hat meine miserable schriftliche Ausdrucksfähigkeit etwas kompensiert.
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Aber man wollte mich dann trotzdem nicht an die Prüfung für das Gymnasium zulassen. Schliesslich hat mein Vater interveniert und durchgesetzt, dass ich es zumindest versuchen durfte. Glücklicherweise habe ich dann die Prüfung bestanden.
Heute sind Sie ein anerkannter und gefeierter Schriftsteller. Das Schreiben ist Ihr Handwerk, gehört zum beruflichen Werkzeug. Wie haben Sie die Leseschwäche, die Legasthenie, denn überwunden?
Durch üben, üben, üben. Schreiben, schreiben, schreiben. Aber ich spüre diese Schwäche heute noch; an manchen Tagen stärker, an anderen weniger. Plötzlich verdrehen sich die Buchstaben. Deshalb bin ich froh, dass es heute Computer mit Korrekturtaste gibt. Und froh bin ich auch um einen guten Korrektor. Bei meinen eigenen Texten sehe ich die Fehler nicht. Da habe ich einen blinden Fleck.
Sie haben sich durch diese Schwäche intensiv mit der Sprache auseinander gesetzt. Sind Sie vielleicht auch gerade deswegen Schriftsteller geworden?
Sie hat bestimmt mein Verhältnis zur Sprache geprägt. Weil ich Widerstände hatte, jedoch nicht einfach kapitulierte, sondern gegen die Schwäche ankämpfte, führte dies zu einer vertiefteren Auseinandersetzung mit der Sprache. Durch die Widerstände habe ich erst ein sprachliches Bewusstsein entwickelt. Ich erspürte die Möglichkeit, mir durch die Sprache Räume zu eröffnen, die ausserhalb des Alltags und dem alltäglichen Sprachgebrauch lagen: Räume aus Klang und Rhythmus, doch von mich bewegender Bildhaftigkeit.
Ich entdeckte die Kraft, die in der Sprache steckt. Jedes Wort empfand ich als einen kleinen Behälter, in dem die Menschheitserfahrungen vieler Generationen komprimiert sind. Wenn es mir gelang, sie zu öffnen, dann entströmten ihm Empfindungen, Düfte und Farben, eine Sinnlichkeit und natürlich ein Sinn. Diesen Behälter mit einem Wortnussknacker zu öffnen, hat mich stets fasziniert und die Beschäftigung mit der Sprache so bereichernd gemacht.