Was darf man in der Holocaust-Literatur? Darüber hat das deutschsprachige Feuilleton in den letzten Wochen heftig diskutiert. Anlass dazu gab der Roman «Stella» des deutschen Schriftstellers Takis Würger.
Viele reagierten auf Würgers Roman mit geharnischten Verrissen. Sascha Feuchert, Fachmann für Holocaust-Literatur, sieht es differenzierter.
SRF: Wie beurteilen Sie den Roman «Stella» und die Debatte um ihn?
Sascha Feuchert: Der Roman erzählt von einer der Handlungsfallen, die die Nazis den Opfern stellten. Stella muss sich entscheiden zwischen dem Tod ihrer Familie, auch ihrem eigenen Tod – und dem Schuldig-Werden an ihren Leidensgenossen.
Sie trifft eine schlimme Entscheidung, aber es gab für sie nur schlimme Entscheidungen.
Das kommt im Roman gut heraus. Ich kann nicht erkennen, dass Würger damit fahrlässig erzählt hätte. Die Vorwürfe, die man ihm macht, gehen mir zu weit. Ästhetisch kann man geteilter Meinung über den Roman sein.
Das Gegenargument ist: Die Kritik hat versucht, den Holocaust vor der Trivialisierung zu bewahren.
Meine Sorge ist, dass das Erzählen über den Holocaust irgendwann aufhören wird, wenn wir es mit zu vielen Tabus umstellen. Das kann in niemandes Interesse sein.
Ist die Geschichte der Holocaust-Literatur eine Abfolge von solch hitzigen Debatten, abgelöst von Zeiten der Stille und des Schweigens?
Durchaus. Nach 1945 erschienen sehr viele Texte von Opfern und Überlebenden, die aber einem grossen Schweigen begegneten.
Bis heute wird manchmal behauptet, die Opfer hätten nach 1945 genauso geschwiegen wie die Täter. Das ist falsch. Sie wurden nicht wahrgenommen.
In den 1950er-Jahren erschienen zwar zentrale Texte wie Elie Wiesels «Die Nacht». In der deutschen Hochliteratur aber kommt das Thema erst in den 60er-Jahren richtig an, rund um die Frankfurter Auschwitz-Prozesse.
Ein Meilenstein war «Die Ermittlung» von Peter Weiss, ein Theaterstück, das damals für unglaubliche Diskussionen gesorgt hat.
Der zentrale Durchbruch für eine breite gesellschaftliche Debatte erfolgte erst Ende der 1970er-Jahre mit der Ausstrahlung der TV-Serie «Holocaust», die pathetisch war, aber einen Diskurs in Gang brachte.
In der Folge dieser gesellschaftlichen Sensibilisierung durch diese triviale Serie kam es dann auch zu neuen Wellen in der Holocaust-Literatur. Die 1980er-Jahre sahen einen regelrechten Boom an Memoiren.
Das hat auch lebensgeschichtliche Gründe: Viele der Opfer sind zu dieser Zeit so alt, dass sie ihre Erinnerungen noch niederlegen wollen.
In den 1990er-Jahren kamen neue Töne und Sichtweisen, die oft schockierten.
Ich denke da an Ruth Klügers «weiter leben», an Aleksandar Tismas «Kapo» oder an Imre Kertesz’ «Roman eines Schicksallosen».
Tismas grossartiger Roman handelt von einem Kapo, einem jüdischen Häftling, der mit den Nazis kollaborierte. Auch Stella verrät Juden. Warum der Fokus auf Juden, die kollaborierten?
Die erwähnten Handlungsfallen und die erzwungene Mitarbeit am Holocaust gehören genauso zu dem mörderischen System wie die Hierarchisierungen unter den Gefangenen, die von den Nazis eingeführt wurden, um Solidarität unter den Häftlingen zu erschweren.
Der polnische Auschwitz-Überlebende Tadeusz Borowski hat schon unmittelbar nach dem Krieg genau darüber geschrieben. Wir gewinnen dadurch ein genaueres Bild von den furchtbaren Bedingungen, die Menschlichkeit zerstören.
Das Gespräch führte Felix Schneider.