Unter den Füssen eine rot-weiss karierte Picknickdecke, vorne rauscht das Meer: So steht man da und versucht, sich zu orientieren. Eine riesige Figur mit hohlen Augen sitzt bei der Decke. Alle Versuche, mit ihr zu interagieren, schlagen fehl.
Noch ein Wesen erscheint, ein schwebender Kopf mit zwei Händen. Mit diesem Wesen kann man sprechen. Es führt einen auf einen Felsen, wo man plötzlich der eigenen Sprache gegenübersteht. Alles, was man im Spiel gesagt hat, erscheint als Transkript auf dem Stein. Eine merkwürdige, beinahe poetische Erfahrung.
Ilse Aichingers Text wird zum Spiel
Das ist nur eine der Erfahrungen, die man in der Virtual-Reality-Installation «Meine Sprache und ich» machen kann. Das Projekt basiert auf einem Text von Ilse Aichinger, den die Medienkünstlerin Sarah Elena Müller in enger Zusammenarbeit mit ihrer Projektpartnerin Lilith Becker, dem VR-Programmierer Benjamin Rudolf und dem Regisseur Corsin Gaudenz umgesetzt hat.
Dieses VR-Erlebnis ist zu einem grossen Teil individuell: Was im Verlauf des Spiels passiert, hängt davon ab, was die einzelnen Spielenden jeweils tun.
Lesen muss man nicht mehr von Anfang bis Ende
Für die Auseinandersetzung mit Literatur ist die virtuelle Realität ein Novum. Plötzlich ist es möglich, direkt in einen Text einzutauchen. Eine nachvollziehbare Entwicklung, findet Claudia Keller. Die Literatur- und Kulturwissenschaftlerin erforscht an der Universität Zürich, wie sich unsere Leseprozesse verändern.
«Es gibt dieses traditionelle Verständnis, dass man einen Text linear von Anfang bis Ende liest und ihn dadurch ‹richtig› versteht», sagt Claudia Keller. Durch die Digitalisierung werde dieses Verständnis verändert.
Heute könne man über Links schnell neue Verknüpfungen herstellen. Dadurch kommen wir vom traditionellen Verständnis von Texten als etwas «Linearem» immer mehr dazu, das Lesen räumlicher wahrzunehmen.
Im Kopf der Autorin?
Mit Virtual Reality erhalten wir allerdings nicht unbedingt einen direkteren Zugang zum Text, sagt Claudia Keller. Zwar gebe es die Fantasie, dass man, wenn man in literarische Texte eintaucht, direkt in den Kopf einer anderen Person schauen könne.
Das sei mit einem solchen VR-Projekt an sich durchaus möglich. Doch hier könne man weniger in den Kopf der Erzählerin schauen. Man schaue vielmehr in den Kopf einer anderen Interpretin, sagt Claudia Keller.
«Meine Sprache und ich» lässt uns also nicht den Text von Ilse Aichinger unmittelbar erfahren, sondern die Art und Weise, wie Sarah Elena Müller und ihr Team sich die Welt dieses Texts vorstellen.
Ein «abgespaceder Trip»
Die Arbeit an der Spielwelt brachte auch die Macherinnen und Macher selbst dem Text näher: «Je länger ich damit arbeite, desto mehr tut sich mir auf, wie viel das mit dem Text von Ilse Aichinger zu tun hat», sagt etwa Projektpartnerin Lilith Becker.
Das Publikum reagiert begeistert. Selbst dann, wenn es mit der Textgrundlage nicht vertraut ist. «Meine Sprache und ich» ist ein Erlebnis: «Ich habe gerade eine Art Trip mitgemacht», sagt einer, der gerade aus dem Spiel kommt. «Das war schon ziemlich abgespaced.»