Zum Inhalt springen

Literatur Unterdrückung und Unmenschlichkeit im stalinistischen Lager

Beim Aufarbeiten des Stalin-Terrors dominiert ein Russe: Solschenizyn, Literaturnobelpreisträger von 1970 mit seinem Jahrhundertroman «Archipel Gulag». Das stellt andere Autoren in den Schatten. Zu Unrecht, wie zum Beispiel der Roman «Schwarze Wasser» von Victor Serge beweist.

Nichts deutete darauf hin, dass Victor Serge ein grosser Journalist und Schriftsteller werden könnte. Denn als er 1890 als Wiktor Lwowitsch Kibaltschitsch auf die Welt kam, durchlebte er eine schwere, vom Elend geprägte Kindheit. Als junger Erwachsener wurde er fünf Jahre unschuldig im Gefängnis gefangen gehalten.

Die Biografie des Autors steckt mit in der Geschichte

1917 war Victor Serge am Arbeiterkampf in Barcelona beteiligt. Als die russische Revolution begann, brach er nach Russland auf und wurde Mitglied der Exekutive der kommunistischen Internationalen. Nach und nach wurde er zum scharfen Kritiker des kommunistischen Systems. Nur dank prominenter Fürsprache gelang ihm 1941 die Flucht nach Mexiko. Dort starb er sechs Jahre später und die Gerüchte, dass er vergiftet worden sei, konnten nie widerlegt werden.

«Schwarze Wasser» ist ein Kondensat seiner bewegten Biographie. Serge hat den Roman zwischen 1936 und 1938 geschrieben. Die Geschichte ist mitten in der Zeit stalinistischen Säuberungen angelegt. Serge beschreibt den Terror und die Unmenschlichkeit, die von Unterdrückung und Gefangenschaft ausgehen.

Weggefährten und Leidesgenossen in der Ödnis

Der Einstieg in den Roman geschieht über die Figur von Michael Iwanowitsch Kostrow. Kostrow ist Professor für «historischen Materialismus» – für Marxismus also. Er wird verhaftet und interniert, ohne grossen Aufruhr. Die genaue Anklage – konterrevolutionäre Agitation – wird ihm erst nach einigen Monaten Gefangenschaft eröffnet.

Die Tortur der Gefangenschaft verfehlt ihre Wirkung nicht: Kostrow verleugnet sich selbst und «bereut» seine Taten. Er wird ins kalte Nirgendwo der russischen Ödnis verbannt, zum Fluss «Schwarze Wasser». In dieser Ödnis trifft er auf fünf Weggefährten: Jolkin, Ryschik, Aweli, Rodion und Warwara. Allesamt sind sie Oppositionelle, Verstossene des ungeheuren stalinistischen Machtapparates und Opfer eines totalitären Systems.

Sogar etwas wie Liebe findet Platz

Buchhinweis

Box aufklappen Box zuklappen

Victor Serge: «Schwarze Wasser». Aus dem Französischen von Eva Moldenhauer. Rotpunktverlag 2014.

Rund um diese fünf Protagonisten entwickelt Autor Serge einen ruhigen und stillen Roman. Einen Roman, der seine Anziehung aus der Kombination von nüchterner und poetischer Sprache entwickelt.

Victor Serge verwebt in seinem Roman verschiedene literarische Gattungen: Er berichtet einerseits in journalistischer Manier und andererseits erzählt er in stillen, aber eindrücklichen Bildern. So spiegelt der Autor in den Beschreibungen der Natur die Zerbrechlichkeit und die Empfindsamkeit des Menschen. Serge lässt in dieser entmenschlichten Abgeschiedenheit gar so etwas wie Liebe zu.

Bescheiden, aber mit grösstem Nachdruck

Es ist ein stilles, melancholisches Buch, das durch Sanftheit seine Stärke entfaltet. Der Autor zieht durch die unaufgeregte und behutsame Sprache in seinen Bann. Mit Ruhe und Präzision zielt er auf das Mitgefühl – auf das genuin Menschliche in uns.

So reagiert man als Leser nicht mit Empörung und lautem Zorn auf die geschilderten Ungerechtigkeiten. Denn obwohl der Tod ständiger Begleiter ist und vielfach angedeutet wird, gewinnt «Schwarze Wasser» seine Eindringlichkeit nicht durch bildstarke Gewaltexzesse. Vielmehr lässt uns Victor Serge das Menschsein fühlen – bescheiden, aber mit grösstem Nachdruck.

Meistgelesene Artikel