«Die Lüge beginnt bei Brecht», sagt Uwe Kolbe am Schluss unseres Gesprächs. Es ist der erstaunlichste Satz, den ich höre auf dieser Berlinreise. Wohl leuchtet er mir ein, nach der Lektüre dieses Buches und dem einstündigen Gespräch. Aber ihn selber denken, darauf wäre ich noch nicht gekommen. Zu unfehlbar schien mir immer der Mann, dessen Grab ich noch auf jeder Berlinreise besucht habe.
Schwarz und kaputt wie die Menschen
Uwe Kolbe empfängt mich in den Räumen seines Verlags in Berlin Mitte. Also Ost. Schöne, alte, renovierte Gründerzeithäuser mit hohen Räumen. Dieselben Häuser, die vor einigen Jahren noch schwarz und kaputt in der Gegend rumstanden und das Bild der DDR prägten.
«So schwarz und kaputt wie die Menschen», sagt Uwe Kolbe und kommt damit gleich auf den Kern des Romans. Um die Menschen ginge es ihm, nicht um ihn selber, nicht um die DDR. Deren Geschichte erzählt er in vielen Abwandlungen. Zu zeigen, wie Menschen kaputtgehen in der Diktatur, wie sie moralisch verkommen: durch ein Unterfangen, das sich Utopie nennt und nichts ist als Schmutz.
Klare Worte in einer klaren Geschichte
Es sind klare Worte, die Uwe Kolbe wählt. Immer schon. Und sein Roman ist eine klare Geschichte, auch wenn mancher Kritiker sie als schwer verständlich abtut. Es ist die Geschichte von Hadubrand und Hildebrand im Dreibuchstabenland, ein Vater-Sohn-Konflikt vor dem Hintergrund der DDR. Der Vater, ein gläubiger Kommunist der ersten Stunde, ein Mit-Erbauer der besseren Welt. Der Sohn, ein Hineingeborener, einer, der die bessere Welt nun ausbaden muss. Aber anders als im Hildebrandlied, in dem sich Vater und Sohn als Heerführer gegenüberstehen, kommt es hier nicht zum Kampf zwischen Hadubrand und Hildebrand. Zu ähnlich sind sie sich. Zu verkommen bereits. Beide. Nicht nur der linientreue Vater, der Stasiagent, der seinen Sohn ausspioniert. Auch der Sohn.
Das äussert sich auch am massiven Frauenverschleiss, den beide zelebrieren. Wenn es keine Moral mehr gibt, dann ist gar nichts mehr wichtig. Die sprichwörtliche sexuelle Freiheit der späten DDR-Jahre ist in Wirklichkeit ein Zeichen des Verfalls. Saufen und vögeln, das sei sie gewesen, die Szene am Prenzlauerberg. Und reden. Reden über Utopie, reden über Sozialismus, der halt jetzt mal ein bisschen zu sehr in den Stalinismus abgedriftet sei.
«Alles Lüge», sagt Uwe Kolbe, von Anfang an. Menschen, die von der besseren Welt reden und sich im eigenen kleinen Umfeld auszeichnen durch Verrat und Gleichgültigkeit. Auch sich selbst gegenüber.
Instrumentalisierte Zeitzeugen
Und am Anfang dieser Lüge stehe Brecht. Der sich habe instrumentalisieren lassen. Oder die anderen Zeitzeugen wie Sartre zum Beispiel. Sie hätten es besser wissen müssen, zu jedem Zeitpunkt, sagt Uwe Kolbe, stattdessen hätten sie es mitgetragen, das Modell Sowjetunion. Das Gulag-Imperium. Darüber schreibe er als nächstes. Keinen zweiten Roman. Ein Essay.
Dann ist das Gespräch vorbei. Mein Weg führt mich durchs Nikolaiviertel zum Alexanderplatz. Dann in die S-Bahn bis Friedrichstrasse. Dort steige ich aus wie immer. Gehe wie immer über die Weidendamer Brücke mit dem Preussischen Ikarus am Geländer, biege in die Chausseestrasse ein und bleibe vor dem Hugenottenfriedhof stehen. Da liegt er: Brecht. Und all die anderen auch. Und ich frage mich, ob ich da jetzt wirklich nochmals reingehen soll.