In seinem Buch «O mein Heimatland!» von 1998 erzählt Adolf Muschg, wie er als Pfadi auf den Namen «Spirit» (Geist) getauft werden sollte:
«Man fesselte mir die Hände auf den Rücken und steckte Kopf und Rumpf in einen Sack. Mit dem einen Ende eines langen Seils wurden mir die Fussknöchel zusammengebunden. Das andere warf man über einen Balken, an dem ich hochgezogen und dann kopfvoran in einen bereitgestellten Kessel niedergelassen werden konnte».
Im Kessel war eine Brühe aus Essig, Öl, Kakao und Pisse. «Die Verweildauer des eingesackten Kopfes in diesem Saft stand im fröhlichen Belieben der Täufer.» An den Füssen hochgezogen, protestierte Adolf so heftig und giftig durch die Sackleinwand hindurch, dass die Pfadis Schiss bekamen und ihn rausliessen. Kaum befreit, erklärte Muschg: «Ich trete aus» – nämlich aus der Abteilung «Morgestärn», aus der Pfadi.
Nein sagen – aber wie?
Die Tarotkarte «Le Pendu», der umgekehrt Hängende, hat Adolf Muschg zeitlebens als seine Karte empfunden. «Die Karte, an der die grösste Angst hängt, muss einem immer wieder aufgedeckt werden, bis man damit leben lernt: bis Verkehrtherum für einen das Richtige wird.» Wie das gehen kann, hat er in der Taufszene vorweggenommen: durch Nein sagen, durch Austreten.
In seiner Kindheit hatte Muschg den lust-, sinnen- und körperfeindlichen Protestantismus seines Elternhauses verinnerlicht. In ihm steckten jede Menge Schuldgefühle, denn schliesslich werden alle Menschen «in Sünde», nämlich durch einen sexuellen Akt, gezeugt, und schliesslich hatten sich seine Eltern für ihn aufgeopfert – das musste durch Leistung und Bravsein gebüsst werden.
Zu diesem Sumpf nein zu sagen, ist nicht leicht. Muschg hatte eine einzige Hilfe: Seine Phantasie, seine Schriftstellerei. Er erfand immer wieder Figuren, die lernen mussten, ihre Gefühle zu erkennen, mit ihrem Körper Freundschaft zu schliessen, Sinnlichkeit zu geniessen, von ihren Schuldgefühlen wegzukommen.
Erzählen statt schiessen
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In der Geschichtensammlung «Leib und Leben» erzählt Muschg von einem erfolgreichen Juristen, der durch einen Ehrendoktor der Universität Raurach geehrt werden soll. Während der Feier zur Verleihung der Ehrendoktor-Würde hält der Dekan die Laudatio: Er zählt die Verdienste des Geehrten auf. Der Geehrte aber erhebt sich, zückt einen Revolver und erschiesst den Laudator. Danach erklärt er auch, warum er das tat: Genau die Erfolge, die der Lobredner da aufzählte, hätten sein Leben ruiniert, sagt er: «Ich bin zwar der Mann, aber nicht der Freund meiner Frau gewesen; zwar der Vater, aber nicht der Bekannte meiner Kinder; ich habe meinen Körper eingesetzt, oft bis zur Erschöpfung, aber bewohnt habe ich ihn nicht. Ich habe meinen Geist spielen lassen, aber ohne Freude am Spiel, und im Grunde: ohne Achtung für mich selbst.»
Muschg nähert sich seinen Lebensthemen, indem er Figuren erfindet, die er in Geschichten verstrickt und mit ihnen spielt. Sein erfundener Jurist schiesst, Muschg schreibt und wir – können lesen. Zu lesen sind, gerade in den frühen Erzählungen von Muschg, sinnliche und anschauliche Geschichten, die an Aktualität und Frische nichts eingebüsst haben.
Das Fremde ist sein lebenslanges Thema
Muschg war viel zu neugierig, um sein Nein auf das Psychologisch-Familiäre zu begrenzen. Er stellt bald auch die Politik und die abendländische Kultur in Frage. Das Fremde ist sein lebenslanges Thema. «Die mir zugedachte Fremde», wie er sagte, fand er in Japan. Japan hatte er als Kind schon über die Kinderbücher seiner Halbschwester Elsa kennengelernt. Japan bot ihm eine Möglichkeit, das europäische Denken in Frage zu stellen, mit einer Japanerin ist er schliesslich verheiratet.
In seinem jüngsten Roman, «Löwenstern», erzählt er Geschichten rund um die Frage, wie man sich einer so fremden Kultur nähern kann, ohne die eigene Würde zu verlieren oder die Würde der anderen zu verletzen.
Noch immer verkehrt herum Aufgehängt
Mit seinem Alterswerk, den Romanen der letzten Jahre, hat sich Muschg in vieler Hinsicht verkehrt herum aufgehängt. Schon ihr Umfang und ihre Komplexität liegen quer zum gängigen Kulturbetrieb. Auch thematisch – von Gespenstern und Übersinnlichem ist da die Rede – verlässt er oft den Konsens. Seine Liebe für alte Geschichten, für die klassische Antike, für die bürgerliche Bildungstradition – die er allerdings gegen den Strich bürstet – geben seinem Alterswerk eine eigene Konsequenz und Radikalität.
Wer heute so viel Vertrauen in Goethe setzt wie Adolf Muschg – ist der nicht verkehrt herum aufgehängt? Muschg hat erkannt, dass das für ihn «das Richtige» ist. Und er ist, wie verkehrt herum auch immer, zu einem der wichtigsten Autoren seiner Epoche geworden.