Thomas von Steinaecker, Sie hatten lange eine Aversion gegen jede Art von politischem Statement in der Kunst. Heute sagen Sie: Als Autor muss man sich der Wirklichkeit stellen! Woher der Gesinnungswandel?
Das war ein schleichender Prozess über die letzten Jahre. Ich wurde durch Artikel und Reportagen zunehmend auf Missstände aufmerksam, die uns in unserer Wohlstandsgesellschaft umgeben. Wir sind uns gewohnt, sie völlig auszublenden, wahrscheinlich, weil wir sonst gar nicht mehr einschlafen könnten. Ich hatte das Gefühl, alles was uns umgibt, ist letztlich auf Blut gebaut.
Was gab den Ausschlag?
Das war schliesslich der Film «Bewegte Republik Deutschland» über 70 Jahre deutsche Kulturgeschichte, den ich letztes Jahr verwirklicht habe. Da war für mich schlagend, wie politisiert die Künstler Ende der 60er- bis Anfang der 80er-Jahre waren – über den Erfolg lässt sich natürlich streiten. Und wie egal demgegenüber die gesellschaftspolitischen Belange den Künstlern meiner Generation heute geworden sind.
Unter anderem war auch eine Begegnung mit Günter Grass ausschlaggebend.
Ich führte ein Interview mit Günter Grass, und am Ende hat er mir dann einen gutgemeinten Ratschlag mitgegeben: Ich solle doch politisch aktiver werden. Wir unterhielten uns über den von Juli Zeh initiierten offenen Brief an Angela Merkel zu den Spionagevorwürfen, den viele Schriftsteller unterzeichneten (u.a. auch Thomas von Steinaecker, Anm. d. Red.).
Grass meinte, die jungen Schriftsteller sollten doch vor dem Kanzleramt protestieren und campieren, bis sie eine Antwort bekommen. Da war für mich klar: Das ist nicht der Weg, den man heute als Schriftstellers wählt. Ich glaube nicht, dass Schriftsteller heute noch die Prominenz haben, die ein Günter Grass, ein Max Frisch oder Hans Magnus Enzensberger hatte, um seine politischen Proteste an den Mann zu bringen. Die gesellschaftliche Stellung des Schriftstellers ist weniger wichtig geworden.
Ihr Schreib-Experiment funktioniert im Kollektiv, als Work in progress und im schnellen Austausch zwischen den Künstlern. Wieso diese Form?
Es ist eine lebendige Form. Man kann es mitverfolgen, man kann aufeinander reagieren, das ist eine der grossen Möglichkeiten des digitalen Schreibens. Ein unabgeschlossener Prozess, bei dem man auch mal Zweifel äussern darf. Wo nichts unbedingt fertig sein muss und man seine Meinung auch mal ändern darf.
Es wird viel zu oft verlangt, dass man eine klare Haltung innerhalb kürzester Zeit einnehmen muss, zu der man dann auch stehen muss. Aber das läuft der Kunst zuwider, die ja auch ambivalent sein muss, damit sie überhaupt atmen kann. Das Kollektiv im digitalen Raum kommt einer neuen Kunst als Abbild von Politik als Gemeinschaft entgegen.
Mit welchen Mitteln kann ein Schriftsteller heute gesellschaftspolitisch Einfluss nehmen?
Etwa mit Empathie: Er kann sich viel besser in Dinge einfühlen, die uns vielleicht völlig fremd sind. Er kann einen Ansatz entwickeln, um in Dinge, Personen hineinzukommen, bei denen wir immer an der Oberfläche bleiben. Wir sehen immer nur Bilder. Aber was vorher und nachher passiert, was hinter den Bildern steckt, wissen wir nicht. Letztlich bleiben uns die Menschen – Opfer wie Täter – irgendwie fremd und kalt und erfüllen nur Klischees, die wir sowieso schon im Kopf haben.
Dinge wie der IS funktionieren nur auf einer medialen Ebene, doch wir wissen wenig darüber, was dort wirklich passiert und was die Beweggründe sind. Die Literatur kann eine Beobachterposition einnehmen, kann einen Schritt zurückmachen. Das ist tatsächlich ein Mittel der anderen Aufklärung.
Es läuft die dritte und letzte Woche des Experiments, was sind ihre bisherigen Erfahrungen?
Alle waren sehr nervös, auch unsicher, mit so einem Thema umzugehen: Wie nähert man sich dem Thema? Weil es öffentlich ist, kann man sich auch furchtbar in die Nesseln setzen, um es mal milde auszudrücken. Die Fallhöhe, die ästhetische wie die moralische, ist extrem hoch.
In der ersten Woche haben sich die Texte der Thematik klassisch erzählerisch genähert. Mit Einfühlung, wenn auch mit sehr unterschiedlichen Lösungen. Inzwischen läuft tatsächlich die Diskussion, und das Interessante ist, dass bei den Texten, die jetzt entstehen, sowas wie eine Reflexion über das bereits Erzählte stattfindet.