Dieser Roman stellt so ziemlich alles in Frage, was wir über uns selbst zu wissen glauben. Auf den ersten Blick erzählt Andrea Gerster eine klassische Familiengeschichte. Aber schnell wird klar: In dieser Familie läuft fast alles anders, als man erwarten würde.
Den Auftakt macht der Vater der Familie, Alber Dillig. Der von Ehrgeiz getriebene Geschäftsmann wird entlassen. Gekränkt in Stolz und Seele beschliesst er, seinem nun vermeintlich sinnlosen Leben ein Ende zu setzen. Er reist ins Bündnerland, steigt hoch ins Gebirge und sucht nach einer geeigneten Felskante für seinen finalen Sprung in die Tiefe.
Der Einbruch des Absurden
Der Lebensmüde kommt allerdings nicht weit. Unterwegs versperrt ihm ein verirrtes Kalb den Weg. «Diese Absurdität, in den Bergen einem Kalb Auge in Auge gegenüberzustehen, an dem er nicht vorbeikommt und es nicht an ihm, lässt Alber laut auflachen», heisst es im Roman.
Das Lachen kommt nicht von ungefähr: Es ist das Lachen des Absurden, das in Alber Dilligs Leben einbricht und dessen Identität nachhaltig erschüttert. Dillig nimmt das Kalb ins Schlepptau und kehrt mit ihm ins Tal zurück. Dillig, der sich bisher kaum um Tiere geschert hat, macht es sich zur Aufgabe, die schutzlose Kreatur zu hegen und zu pflegen.
Eine groteske Erfahrung, wenngleich unter anderen Vorzeichen, macht auch Albers Ehefrau Hanna Dillig. Sie erfährt aus der Zeitung, dass ihr langjähriger Liebhaber verstorben ist. Auch ihre Identität gerät ins Wanken. Reflexartig sucht sie das Weite. Sie fliegt nach Berlin. Dort führt die zufällige Bekanntschaft mit einem skurrilen Hochschullehrer dazu, dass Hanna ihr bisheriges Doppelleben mit Ehemann und Liebhaber überdenkt.
Der Spiegel im Spiegel
So schräg die Erfahrungen der Eltern, so absonderlich sind auch deren drei erwachsene Kinder – am meisten Mia Dillig. Sie schreibt ein Tagebuch. In diesem gibt sie sich zur Verblüffung des Lesers als die eigentliche Autorin des Romans zu erkennen.
Spätestens in diesem Moment scheint man beim Lesen den Halt zu verlieren. Man stellt sich die Frage: Wer eigentlich sind diese Figuren? Ein Spiegel im Spiegel öffnet sich. Was ist Fiktion? Und was ist Fiktion innerhalb der Fiktion?
Mit geradezu diebischem Schalk rückt Andrea Gerster diese Frage mehr und mehr in den Mittelpunkt. Am Ende lässt sie die als fiktive Autorin geoutete Mia Dillig erklären, dass «für gewöhnlich» eine «wahre Geschichte mit geänderten Namen erzählt» werde.
Aber sie habe ein anderes Verfahren gewählt: «Ich erzähle eine fiktive Geschichte mit den richtigen Namen.» Will heissen: Nur die Namen der Figuren sind real, alles andere ist Fiktion. Der Roman – so das Fazit – erzählt von Möglichkeiten, wie das Leben der geschilderten Figuren auch hätte verlaufen können.
Das Spiel mit den Identitäten
Völlig neu ist diese literarische Idee nicht. So erinnert Andrea Gersters Roman an Vorläufer wie etwa die bekannten literarischen Identitätsexperimente von Luigi Pirandello oder Max Frisch.
Dennoch lohnt sich die Lektüre. Dank des raffinierten Aufbaus und der knappen, lakonischen Sprache verwirrt und irritiert der Roman die Leserinnen und Leser im besten Sinn: Er regt dazu an, das Bild von sich selbst zu hinterfragen: Wie wäre es, wenn ich zwar denselben Namen trüge, aber jemand ganz anderes wäre?
Sendung: Radio SRF 2, Kultur kompakt, 10.7.2015, 08.20 Uhr