Wie eigentlich will ich leben? Wessen Traum lebe ich? Wie aufrichtig will ich zu mir sein? Solchen Grundsatzfragen nimmt sich Nicolas Dierks, Philosoph an der Universität Lüneburg, in seinem neuen Buch an.
Im Kern drehen sich diese alle um eines der charakteristischen Spannungsfelder der Gegenwart: Einerseits geniessen wir – zumindest in der westlichen Welt – Freiheiten, wie sie kaum einer früheren Generation vergönnt waren. Andererseits bringt die Vielfalt an Optionen auch die drückende Verantwortung mit sich, die Freiheit der Wahl auch sinnvoll zu nutzen.
Den Schatz anzapfen
Wie soll ich leben, damit mein Leben gelingt? Nicolas Dierks zeigt anschaulich, dass es zur Beantwortung dieser Frage einen reichen Wissensschatz gibt, der angezapft werden und für uns Menschen heute sehr nützlich sein kann: die Philosophie.
Spätestens seit der Aufklärung und den Revolutionen im 18. Jahrhundert, als sich die Menschen der westlichen Welt ihre Freiheitsrechte eroberten, haben «grosse Geister» das uns noch heute beschäftigende Spannungsfeld zwischen der Freiheit und der damit einhergehenden Last der Verantwortung ausgeleuchtet. Am berühmtesten ist Immanuel Kants Diktum von 1784: «Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!»
Verloren im Strudel der Möglichkeiten
Kants Ausspruch scheint eine der Grundmaximen zu sein, die Nicolas Dierks Buch durchzieht. So schreibt er etwa, dass wir durch die moderne Technologie schneller, effizienter und flexibler geworden seien. Paradoxerweise hätten wir jedoch deswegen keineswegs mehr Zeit. Im Gegenteil: Die Zeit wird knapper. Der Stress in Alltag und Beruf, die permanente Erreichbarkeit, die Erwartung, immer «auf Draht» sein zu müssen, befördere bei vielen Menschen die unterschwellige Angst, aus den vielen Möglichkeiten, die falschen auszuwählen. Am Ende steht die Drohung, das Leben verpasst zu haben.
Wir seien darauf getrimmt, Probleme mit Effizienz und Optimierung anzugehen – den probaten Mitteln unserer Zeit. Bei grundsätzlichen Lebensfragen funktioniere diese Methode jedoch meistens nicht, gibt sich Dierks überzeugt. Hier wäre vielmehr der «Wandel unserer Einstellung» angezeigt. Und da könne die Philosophie helfen. Sie sei aber weder ein «Antwortregister» noch ein «Lehrgebäude», sondern «eine Einladung zum Denken».
Denken und verändern
Beitrag zum Thema
Wer das Buch öffnet und darin zu lesen beginnt, kann diese Einladung nur schwer ausschlagen. Schon auf den ersten Seiten zeigt sich der höchst anregende, kluge und niemals abgehobene Stil, den Nicolas Dierks pflegt, um seine Leserinnen und Leser zum Denken und damit zu einer anderen Sichtweise der Dinge anzuregen.
Etwa in jenem Kapitel, wo er fragt, wessen Traum man eigentlich lebe – den eigenen oder denjenigen von anderen? Die Beschäftigung mit der Frage des eigenen Lebenstraums beginnt Dierks mit der Schilderung einer Alltagsszene: Jemand geht auf der Strasse, macht urplötzlich kehrt und eilt in die entgegengesetzte Richtung davon. Die Szene zeigt plastisch, dass es Momente gibt, in denen wir merken, dass wir nicht unseren Weg verfolgen, sondern denjenigen eines anderen.
Im Anschluss an diese Schilderung leitet Dierks elegant über auf die philosophische Tradition, die sich hinter der Frage nach dem eigenen Lebenstraum verbirgt. Die Auseinandersetzung mit der Philosophie – mit dem «bereits Gedachten» – dient der intellektuellen Durchdringung und öffnet am Ende für den Leser den Weg zu einem persönlichen Fazit, wie es tatsächlich um die eigene Lebensgestaltung steht.
Eine neue Sicht der Dinge
An keiner Stelle tappt Dierks dabei in die Falle, seine Leserinnen und Leser beraten zu wollen. Vielmehr regt er mit seiner klaren und niemals in den Philosophen-Jargon abgleitenden Sprache dazu an, die Perspektive auf die eigene alltägliche Erfahrung zu verändern.
Ziel ist es, ihr dadurch ihre bisweilen bleierne Schwere zu nehmen und kraft des eigenen Verstands zu einer neuen Sicht der Dinge zu gelangen. Nicolas Dierks Buch ist – ganz in Kants Sinn – ein Mutmacher erster Güte.