William T. Vollmanns tausendseitiges Opus wird in diesem Frühling wie kaum ein Buch von der Kritik gefeiert, denn in einem gewaltigen Zangengriff zwingt der US-amerikanische Autor die Musik und die Literatur, Hitler und Stalin, den heissen Weltkrieg und den kalten Krieg in ein kühnes Konstrukt, das von der russischen Revolution 1917 bis zum Mauerbau 1962 reicht. Er zeigt, wie die Literatur als Wahn der Worte den Wahn der Welt auffangen kann.
Von Mythen und Wahn
Wuchtig wummernd prallen Wagners Mythen von Wahn und Weh in Vollmanns verrücktem Werk auf die Musik von Schostakowitsch. Musik und Moral – geht das zusammen? Schickte Hitler nicht Wagners Helden an die Front und hingen im Stacheldraht nicht Schostakowitschs Noten, abgefeuert von der Stalinorgel der Propaganda?
Europas Zerfall
Doch selbst kritische Dichterinnen wie Anna Achmatova haben sich unter dem Terror in den Dienst der Diktatur gestellt und die fröhliche Freiheit unter Stalin besungen. Vollmanns Roman ist eine Parabel über den Zerfall von Europa und den Bankrott der Kunst. Allerdings eine höchst kunstvolle Parabel, die mit einer Wortgewalt auffährt, die wohl nur einer hätte vertonen können: Richard Wagner!
Voll Wonne wühlt Vollmann im Wirrwarr der Gefühle, leitet Achmatovas esoterische Gedichte aus erotischen Exzessen ab und überblendet im Höhepunkt des Romans Schostakowitschs «Opus 40» und das erotische Züngeln Elenas mit ihrem «ach so schwarzen Haar», das wie Wellen über Schostakowitschs Brust wogt, wenn sie ihn reitet, hinaus in die Weiten der russischen Steppen, in denen deutsche Panzer festfrieren.
Ein Kaleidoskop unterschiedlichster Schicksale
Im Unterschied zu Jonathan Littells Skandal-Roman «Die Wohlgesinnten», in dem uns ein hochgebildetes Ich, das ganz an Nazi-Ideale glaubt, durch Auschwitz führt, bietet uns Vollmann ein Kaleidoskop von Ich-Schicksalen an:
Den gottesfürchtigen Kurt Gerstein, der die Welt über Konzentrationslager informieren will und dafür Juden tötet und sie mit Stiefeln ins Gesicht tritt, Panzergrenadiere, die alles Leben ausradieren, General Wlassow, der zu den Deutschen überläuft, Käthe Kollwitz, die sich für kommunistische Propaganda einspannen lässt, und vor allem Schostakowitsch, der sich anfänglich weigert, Programmmusik zur Erhebung der Massen zu schreiben und dann doch die Belagerung von Leningrad in Töne fasst und sich mit dem Regime arrangiert.
Welches «Ich» hätten wir gewählt? Was wäre damals aus unserem «Ich» geworden? Am Schluss ist man nicht mehr sicher, ob man Widerstand geleistet oder eben doch einfach mitgemacht hätte, so wie wir heute im Konsumterror der Gegenwart mitmachten, wie William T. Vollmann gerne in Interviews betont. So wird dieses riesige Stück Weltgeschichte bei der Lektüre Teil unserer eigenen Biografie.