Sie sagten kürzlich in einem Interview, dass es im heutigen digitalen Zeitalter auch ohne Bücher und damit auch ohne Bibliotheken gehe. Wie kommen Sie als Leiter einer Bibliothek auf die Idee, diese Einrichtung als überflüssig zu deklarieren?
Rafael Ball: Ich bin nicht für Abschaffung von Bibliotheken, das sage ich am Ende des Interviews ganz deutlich. Es geht mir darum, eine Debatte zu eröffnen. Und ich finde es geschickter, wenn das jemand tut, der von diesen Themen eine Ahnung hat. Ich finde es dringend nötig, dass wir uns überlegen, was im digitalen Zeitalter die Bedeutung und der Auftrag von Bibliotheken sein sollen.
Bücher sind mehr als nur ein Medium, sie haben eine Seele, einen ideellen Wert, sind eng mit persönlichen Erinnerungen verbunden. Wie reagierte Ihr Umfeld auf Ihre doch sehr nüchtern formulierten Thesen?
Ich habe versucht, mich dem Thema Buch nicht emotional zu nähern, sondern aus der Praxis des Managers, der eine Bibliothek verantwortet. Aus den Reaktionen merkt man tatsächlich, dass das Medium Buch enorm emotionsgeladen ist. Die meisten waren etwas irritierte Nachfragen, ob ich denn wirklich Bücher abschaffen will.
Interessant war auch, wie sich der Unterschied der Disziplinen deutlich macht. Es gab zum Beispiel eine sehr irritierte, fast schon böse Reaktion eines Geisteswissenschaftlers der ETH. Eine halbe Stunde später hatte ich eine neu berufene Robotik-Professorin der ETH zu Gast. Sie sagte: ‹Lassen sie mich doch mit Büchern in Ruhe, mich interessieren weder gedruckte noch elektronische. Ich benötige andere Medien. Alles was ich nicht digital finde, hilft in meiner Disziplin nicht.›
Wie steht es um den Aspekt des Kurators, wenn man einfach alle Bücher ungefiltert digital bereitstellt? Ich meine damit die kenntnisreiche Auswahl aus einem unüberschaubar grossen Angebot unter verlässlichen Qualitätskriterien. Geht der rasche Zugriff auf das Wichtige und Relevante so nicht verloren?
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Der Kurator hatte seine Bedeutung in erster Linie im analogen Zeitalter, als es Bibliotheken noch gar nicht möglich war, alles anzubieten. Heute in der digitalen Welt steht die komplette Auswahl zur Verfügung. Das ist einerseits ein ‹information overload›, andererseits eröffnet es ungeahnte Möglichkeiten. Denn die Auswahlkriterien, die Raster und Suchmaschinen, wählt heute jeder selbst. Wir können aus einem viel grösseren Fundus auswählen, als wenn jemand eine Vorauswahl trifft.
Das Buch als Medium hat sich über viele Jahrhunderte bewährt und gehalten. Wie verlässlich die digitale Speicherung funktioniert, wissen wir noch nicht. Vertrauen sie den technischen Speichermedien, den Servern und Clouds?
Wir an der ETH sind besorgt dafür, dass wir nicht naiv und blind Dingen vertrauen, die wir nicht verstehen. Wir haben beispielsweise einen grossen Server, wo Wissenschaftler ihre Forschungsdaten ablegen. Dieser wird mehrfach gespiegelt, immer wieder gesichert und evaluiert.
Ich habe volles Vertrauen in diese Technologien und Speichermedien. Wenn man das nicht hat, muss man es machen wie die Behörden: Sie pressen alle wichtigen Dokumente auf Mikrofilm und packen sie in ein Bergwerk. Das ist eine Möglichkeit. Für die gesamte Literatur, die weltweit erzeugt wird, kann man das aber nicht leisten.
Sendung: Radio SRF 2 Kultur, Kultur kompakt, 10.2.2016, 6:50 Uhr