Christine Nöstlinger kann sich aufregen. Immer noch. Zum Beispiel über Rassisten in ihrem Quartier. Sie wohnt in einem Aussenbezirk Wiens, in dem auch viele Migrantinnen und Migranten zuhause sind.
«Da war dieser Mann im Supermarkt, als drei Frauen mit Kopftuch reinkamen», erzählt sie mir, nachdem sie mich in ihr helles Wohnzimmer geführt hat. «Als die drei wieder rausgingen, meinte der Mann, man solle die Frauen doch erschiessen.» Solche Situationen erlebe sie leider immer wieder.
Kritik im Blut
Aufregen konnte sich Christine Nöstlinger auch früher. Über Missstände jeglicher Art. Das sei das Erbe ihres Grossvaters, der ein glühender Sozialdemokrat gewesen war. 1936 geboren, ist sie im Zweiten Weltkrieg Kind gewesen. «Die Kriegsjahre haben mich geprägt», sagt sie. Ihre Grosseltern und Eltern hätten den Nazis mehr als kritisch gegenübergestanden.
Besonders die lautstarke Grossmutter habe nie ein Blatt vor den Mund genommen. Ihr und ihrer Kindheit hat sie im Buch «Maikäfer flieg!» ein Denkmal gesetzt. Es ist eine autobiografisch gefärbte Erzählung aus dem zerbombten Wien und den Freiräumen, die sich ein Kind sucht – allen Widrigkeiten zum Trotz.
Eine gewichtige literarische Stimme
Christine Nöstlinger spricht mit einer dunklen, ehrlichen Stimme. Sie kontrastiert ihre äussere Erscheinung. Denn die Autorin ist eine überraschend schmächtige Frau. Die Augen, die mich in ihrer Wohnung über den Dächern von Wien aus ihrem angejahrten Gesicht anblicken, sind freundlich.
Besuch wie meinen bekommt sie zu ihrem 80. Geburtstag viel. Denn auch das ist ein Kontrast: Die federleicht wirkende Frau hat eine gewichtige literarische Stimme.
Malen aus Langweile
Man habe sie fälschlicherweise für zeichnerisch begabt gehalten, damals in der Schule, erzählt sie mir zwar bescheiden, doch der Schalk blitzt aus ihren Augen. Deswegen sei sie Gebrauchsgrafikerin geworden – und habe als frischgebackene Ehefrau und Mutter aus purer Langeweile angefangen, ein Bilderbuch zu malen. Der Text zu den Bildern sei dabei jedoch länger und länger geworden. Schliesslich habe ein Verlag sich für die Wörter und nicht für die Bilder interessiert.
Sie veränderte die Kinderbuchlandschaft
Das war der Anfang ihrer beispiellosen Karriere als Kinder- und Jugendbuchautorin. Denn die Nöstlinger, die man gerne in einem Atemzug mit Astrid Lindgren nennt, war auf den Geschmack des Schreibens gekommen.
Ihre Geschichten waren bevölkert von frechen, rebellischen Aussenseiterkindern und fehlbaren, zweifelnden Erwachsenen. Solche Figuren waren damals in den 1970er-Jahren neu in der Kinderbuchlandschaft.
Neu waren auch ihre Themen: sozial, engagiert und aufklärerisch. So zum Beispiel «Wir pfeifen auf den Gurkenkönig!», eine Art Lehrstück über den Zusammenhang von Macht, Revolution und Putsch. Für den Gurkenkönig hat sie 1973 den Deutschen Jugendliteraturpreis bekommen.
Selfies und Screens? Nichts für Nöstlinger
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Die Österreicherin hat für ihr Werk alle wichtigen Preise erhalten. Sie hat auch Drehbücher geschrieben, beim Radio und bei Zeitschriften gearbeitet. Immer wollte sie dabei die Welt verstehen, und die Welt erklären.
Doch heute ist manches anders. Den Draht zu den Jugendlichen finde sie nicht mehr, sagt sie, fast schon melancholisch. «Ich verstehe nicht, wie man den ganzen Tag übers ein Smartphone wischen kann und warum man sich immer selber fotografiert», so die Autorin.
Deswegen sei es für sie ausser Frage, Jugendbücher zu schreiben. «Als Autorin muss man kennen, worüber man schreibt, sonst merkens die Jugendlichen.» Kinderbücher jedoch traut sie sich immer noch zu. Denn die Kindheit sei universell, da habe sich wenig verändert.
«Ich möchte ewig leben»
Jetzt also ist Christine Nöstlinger 80 Jahre alt. Bald zu sterben hat sie nicht vor. Die Aussicht auf den Tod behagt ihr gar nicht. Sie sei Atheistin, deswegen sei mit dem Tod alles zu Ende. Sie halte es da mit dem Schriftsteller Elias Canetti, der den Tod als Gemeinheit bezeichnet habe. «Ich möchte ewig leben», sagt Christine Nöstlinger. Denn eine Welt ohne sich darin könne sie sich nicht vorstellen. Wir uns auch nicht.