Nein, Olga Tokarczuk ist keine Dissidentin. Keine Vertreterin jener Generation regimekritischer Autorinnen und Autoren Mittel- und Osteuropas, die jetzt, dreissig Jahren nach dem Ende der kommunistischen Diktaturen, endlich mit dem Nobelpreis ausgezeichnet wird.
Olga Tokarczuk ist jünger. Sie ist – auch wenn sie 1989 schon 27 Jahre alt war – ein heutiges Phänomen. Eine aktuelle mitteleuropäische Erzählerin.
Was allerdings nicht heisst, dass sie nicht politisch ist. Im Gegenteil. Wann immer nötig kritisiert sie öffentlich Putins Hegemonialanspruch auf Polen und die lasche, kompromissbereite westeuropäische Haltung dazu.
Trotzdem: Olga Tokarczuk ist keine wirklich politische Schriftstellerin. Sie ist vor allem eine Erzählerin. Eine Erzählerin, der es ums Erzählen geht.
So erfindet sie Märchen, weil sie sich gerne welche erzählt. Dabei kennt sie keine Grenzen. Sie lässt Figuren Geschichten erzählen oder träumen, lässt Figuren von Figuren träumen, die wiederum Geschichten erzählen. Und so weiter. Wild und ungestüm geht es zu. Ganz anders als bei vielen postmodernen Zeitgenossen.
Von der Psychologin zur Autorin
Olga Tokarczuks «Heimat» ist die Psychologie. Sie ist eine von C.G. Jung inspirierte Psychologin, die zusammen mit ihrem Mann – auch er ein Psychologe – einen kleinen Verlag betreibt.
Ihre Familie stammt aus Lemberg und kommt nach dem Zweiten Weltkrieg nach Schlesien. Dort wird Olga Tokarczuk 1962 geboren, durchläuft die Schulen und entschliesst sich für ein Psychologiestudium in Warschau.
Nach einigen Jahren als Therapeutin verhaltensauffälliger Jugendlicher in der Provinz kehrt sie zurück in ihre schlesische Heimat und beginnt zu schreiben. Heute lebt sie in einem kleinen sudetischen Dorf nahe der tschechischen Grenze.
Durchbruch mit einer Parabel
Olga Tokarczuks literarische Laufbahn beginnt 1989. Mit «Städte im Spiegel» erscheint ein erster Gedichtband. Vier Jahre später folgt dann das Romandebüt: «Reise der Buchmenschen» ist einer Parabel über die Suche zweier Liebenden nach dem «Geheimnis des Buches» – was wiederum eine Metapher für die Bedeutung des Lebens ist. Damit schafft sie den nationalen und bald auch den internationalen Durchbruch.
Seither erscheinen regelmässig Romane, Erzählbände und Essays. Zuletzt der Roman «Die Jakobsbücher», der gerade beim Zürcher Kampa-Verlag auf Deutsch herauskommt.
Grosses Erzähltalent
Und so ist Olga Tokarczuk aus der polnischen Provinz im Verlauf der Jahre still und heimlich eine vielfach ausgezeichnete Literatin internationalen Renommees geworden. Zuletzt erhielt sie für ihren Roman «Unrast» den Man Booker International Prize des Jahres 2018.
Und jetzt also der Nobelpreis. Die Schwedische Akademie zeichnet damit neben dem «Enfant terrible» Peter Handke eine Autorin mit grossem Erzähltalent aus, die einem Kulturraum stammt, der sich immer wieder gegen seine Nachbarn behaupten muss.
Die Polen wird’s freuen. Die passionierten Leserinnen und Leser der ganzen Welt allerdings auch.