Märchenhaft schön ist diese junge Frau, kein Wunder, dass sie allen den Atem raubt: «Viele machten der schönen Kainis den Hof», heisst es im Märchen «Der rubinrote Vogel» von Krisztina Rita Mólnar. «Auch Knaben anderer Städte hätten sie liebend gern zur Frau genommen».
So weit, so altvertraut. Doch Kainis ist keine klassische Märchenfigur: «Nun verhielt es sich aber so – ihr seht, auch so etwas kommt vor –, dass sich Kainis keinen Mann wünschte. Sie mochte es lieber, allein am Meeresufer zu spazieren.»
Selbstbewusst ist Kainis. Auf Schönheit gibt sie nichts – ebenso wenig aufs Frau-Sein. Viel lieber wäre sie ein starker Mann. Als Poseidon sie in seine Gewalt bringt, betört sie ihn dermassen, dass er ihr jeden Wunsch erfüllt. Fortan rettet Kainis als Kaineus immer wieder die Welt.
Märchen verändern sich
Frisch ist das, modern. Mit viel Augenzwinkern schlicht erzählt, ohne Moralinsäure und ohne offensichtlich didaktische Botschaft.
Es ist eine der siebzehn Geschichten aus «Märchenland für alle». Märchen werden immer mal wieder umgeschrieben oder anders erzählt. Seit es sie gibt. Um diese Tradition wusste der Herausgeber der ungarischen Ausgabe, Boldizsár M. Nagy: «Darüber, seit wann es Märchen gibt, können wir nur Vermutungen anstellen, aber eins ist gewiss: Seit dem Altertum bis heute hat jede Gesellschaft sie gebraucht.»
Was die ungarische Gesellschaft braucht, meinte der ungarische Lesbenverband Labrisz zu wissen. Auf seine Initiative haben die Autorinnen und Autoren neue Geschichten aus dem alten Märchenmaterial gemacht. Er bat sie um Heldinnen und Helden, mit denen sich Menschen besonders identifizieren könnten, die marginalisierten Gruppen angehören.
Deswegen sind die Figuren nun divers, selbstbewusst und benennen immer, was ihnen nicht passt. Manchmal werden die Vorzeichen einfach umgedreht. Statt der bösen Stiefmutter, ist es der böse leibliche Vater, der Schneewittchen nach dem Leben trachtet. Manchmal lösen sich die Geschichten von der ursprünglichen Vorlage und werden völlig frei erzählt.
Buch landete im Schredder
Alles andere als märchenhaft waren die Reaktionen in Ungarn, als das Buch 2020 erschien. Eine rechtsextreme Parlamentsabgeordnete schredderte öffentlichkeitswirksam ein Exemplar des Buches. Für diese homophobe Aktion zeigte der rechtspopulistische Ministerpräsident Viktor Orban Verständnis – laufen doch Homosexuelle und Transsexuelle seiner ultrakonservativen Familienpolitik zuwider.
Das Unbekannte macht Angst. Auch davon handeln diese Märchen. Da wird ein Hase mit drei Ohren geboren. Was oder eher wer ist das Wesen, das so augenfällig von der Norm abweicht? Und was soll mit dem Wesen geschehen?
Stimmen wir ab, was mit dem kleinen Hasen geschehen soll.
Im Märchen von Kriszta Kasza greifen die Entscheidungsträger zur Politik: «Stimmen wir ab, was mit dem kleinen Hasen geschehen soll. Nächste Woche kommen die Kaiseradler zu ihrer üblichen Mäusejagd, wir könnten ihnen den Kleinen anbieten.» Zum Glück hat der dreiohrige Hase eine Lobby. Er darf schliesslich leben.
Das Märchenbuch in Ungarn durfte es nicht. Viktor Orbán nahm es zum Anlass, ein neues Gesetz im Parlament durchzubringen: Es verhindert, dass sich Kinder und Jugendliche über eine von der vermeintlichen Norm abweichende Sexualität informieren können. Deswegen kann das Buch in Ungarn nicht mehr verkauft werden.
Stereotype Figuren immer noch dominant
Das Märchenbuch aus Ungarn erfindet dabei das Genre nicht neu. «Auch wenn bei aktuellen Neubearbeitungen von Märchen die stereotypen Figuren vorherrschend bleiben, kann man doch sagen, dass es vor allem im englisch-amerikanischen Sprachraum inzwischen einige diversitätsbewusste Nacherzählungen gibt», sagt Aleta-Amirée von Holzen vom Schweizerischen Institut für Kinder- und Jugendmedien SIKJM. «Auf Deutsch sind das noch eher Einzelfälle.»
Im «Märchenland für alle» findet sich auch die Geschichte von der Hexe aus «Hänsel und Gretel». Sie trauert um den Verlust ihres eigenen Kindes. Böse ist sie nicht, sie macht Erwachsenen einfach Angst. Hier lernen die Kinder: Auch im Märchen gibt es nicht nur Schwarz und Weiss.
Genau diese Zwischentöne sind es, die jede Gesellschaft braucht. Doch Happyends gibt es bisher nur in Märchen.