Es handelt sich um bisher unveröffentlichte frühe Erzählungen von Helen Meier: Die Autorin, die am 17. April 90 Jahre alt geworden ist, verfasste sie zwischen 1954 und 1957.
In den kurzen Texten tritt bereits eine enorme Sprachkunst zu Tage. Zwar sind sie gelegentlich formal noch etwas ungelenk und halten sich bisweilen etwas gar eng an das Vorbild des traditionellen Märchens.
Immer wieder aber blitzt die literarische Brillanz auf, die Helen Meiers späteres Werk auszeichnet: in «Trockenwiese», mit dem sie 1984 – als 55-Jährige – auf einen Schlag bekannt wurde, und auch später.
Helen Meiers Lust, zu fabulieren, aber auch ihr bitterböserer Humor, ihr Hang zum Surrealen – all dies ist in diesen frühen Märchentexten zu finden.
Die gepeinigte Frau
Auch die Beziehung zwischen den Geschlechtern, der sich Helen Meier in ihrer Literatur immer wieder gewidmet hat, ist als zentrales Thema bereits gesetzt.
So etwa im Märchen mit dem Titel «Mondnacht»: Es ist im Unterschied zu anderen weniger für Kinder geeignet.
Die Erzählerin brandmarkt die sexuelle Ausbeutung einer Frau, die für den Mann «ihr Bestes» tut: Sie habe «den Samen geschluckt, die Lederhaut massiert, ihre Nerven ruiniert».
Dann sei der Mann gegangen, und die Frau «mochte die Leintücher sieden, den Boden aufwaschen, die Türgriffe desinfizieren: aus ihrer zarten Seele bringt sie die Knetgriffe, die Kunstgriffe, die Speichelleckerei, die Ohrenschleckerei nicht heraus».
Der Einbruch des Absurden
Es dürfe Leserinnen und Lesern bei ihren Texten nicht zu wohl werden, sagte Helen Meier einmal. Gerade wenn sie über die Liebe und deren Verwerfungen schreibe – und das tat sie oft – sei billiger Trost fehl am Platz.
Sie ziehe es vor, mit schrägen Wendungen zu überraschen. Auch dieses Markenzeichen von Helen Meiers Literatur findet sich bereits in mehreren der Märchen.
Am markantesten in jener Erzählung, in der sich ein Bauer lieber von einer Hexe mehrere Glieder abhacken lässt, als den ihm anvertrauten Tieren einen Wunsch abzuschlagen.
Literatur für die Schublade
Helene Meier schrieb die Märchen vor über sechzig Jahren. Die junge Frau hatte damals gerade ihre Ausbildung abgeschlossen und arbeitete in der Ostschweiz als Primarlehrerin.
Die Texte lagerten lange Jahre in einem Schrank der im ausserrhodischen Trogen lebenden Schriftstellerin. Sie gingen vergessen und sind heute im Schweizerischen Literaturarchiv.
Der Herausgeber des Buches hat sie gefunden: der Zürcher Literaturwissenschafter Charles Linsmayer, der bereits verschiedentlich Werke von Helen Meier veröffentlicht hat.
Dieser neue Erzählband ist bezaubernd. Und er fasziniert, denn er zeigt eindrucksvoll, dass in der einstigen Lehrerin bereits Jahrzehnte vor ihrem späten Durchbruch eine Dichterin schlummerte.