«Das Wasser war kalt. Ihre Kleider sogen sich voll, sie versuchte, stillzuhalten, so wie ihre Mutter es ihr gesagt hatte, versuchte unterzugehen, aber als die Lunge zu schmerzen begann, rissen ihre Arme nach oben, wie von allein, stiessen sie hoch, bis ihr Kopf wieder über der Wasseroberfläche war, bis sie nach Luft schnappen konnte. Um sie herum trieben Leichen.»
Es ist ein kleines Mädchen, um das es hier geht. Ende April 1945 in der deutschen Kleinstadt Demmin in Mecklenburg-Vorpommern. Die Mutter hat das Mädchen geheissen, sich mit ihr zusammen in einem der Flüsse der Stadt zu ertränken. Das Mädchen überlebt. Die Mutter nicht.
Fiktiv und doch real
Das Kind ist eine Figur im Roman «Die Gespenster von Demmin», dem literarischen Debüt der in Leipzig lebenden Autorin Verena Kessler. Das Mädchen sei fiktiv, sagt Verena Kessler.
Gleichzeitig ist es aber auch real: «In diesem Mädchen habe ich zahlreiche Berichte von Zeitzeugen verdichtet, die damals dabei waren». Und die das Grauen überlebt haben.
Angst vor der Vergeltung der Sieger
Rückblende: Kurz vor Kriegsende erreichen sowjetische Panzer auf ihrem Weg Richtung Berlin Demmin in Mecklenburg-Vorpommern. Ein beschauliches Städtchen mit 15'000 Einwohnerinnen und Einwohnern.
Die Wehrmacht hat die Brücken über die beiden Flüsse des Städtchens gesprengt. Der Vorstoss der Roten Armee kommt ins Stocken. Demmin wird zum Heerlager – ohne Fluchtwege für die Zivilbevölkerung.
Die Angst vor der zu erwartenden Brutalität der «bolschewistisch-mongolischen Horden», wie die NS-Propaganda die Invasoren bezeichnete, führt zu Panik: Hunderte erhängen sich. Vergiften sich. Ertränken sich, mit Rucksäcken voller Steine. Eltern nehmen ihre Kinder mit in den Tod.
Selbstzerstörerische NS-Logik
Demmin ist der grösste Massensuizid im untergehenden Hitlerstaat. Aber längst nicht der einzige.
1945 reisst eine regelrechte Welle von Selbsttötungen Deutsche in den Untergang. Die Forschung geht von bis zu 100'000 Opfern aus. Die Menschen hätten sich mit dem Suizidgedanken gegenseitig regelrecht angesteckt, schreibt der Historiker Florian Huber in seiner aktuellen Studie zum Thema.
Die sowjetischen Soldaten haben während des rücksichtslosen Vernichtungskriegs der Deutschen in Osteuropa Angehörige, Freunde, Verwandte verloren. «Jeder Russe, der Demmin betrat, hatte Anlass zu Rache und Vergeltung, zu Hass- und Triumphgefühlen», so Huber.
Tatsächlich seien in Demmin «Hunderte von Soldaten ausgeschwärmt auf der Suche nach Uhren, nach Schmuck, nach Frauen, nach Spass und Lust und Gewalt.»
Doch nicht nur die tatsächliche Gewalt, schreibt Florian Huber, sondern auch die blosse Angst davor, habe die Menschen in den Suizid getrieben. Und das Schuldbewusstsein. Es schlug mit der militärischen Niederlage in totale Verzweiflung um. Auch schien wohl manchen ein Leben ohne Nationalsozialismus unvorstellbar.
Unter dem Schleier der Verdrängung
Der Massensuizid von Demmin, so monströs er war, verschwand über die Jahrzehnte aus dem öffentlichen Bewusstsein. «Als ich vor ein paar Jahren per Zufall zum ersten Mal von Demmin hörte, war ich bass erstaunt, dass mir das Geschehen nicht schon längstens bekannt war», sagt die Autorin Verena Kessler.
Die Schweizer Autorin Zora del Buono griff die Tragödie bereits 2008 in ihrem Romandebüt «Canitz’ Verlangen» auf und setzte sich mit der Verdrängung des grausamen Geschehens auseinander.
Doch woher rührt diese Sprachlosigkeit? Und dies in einem Land, das viel getan hat, die eigene Vergangenheit aufzuarbeiten?
Die Antwort liegt darin, dass in Deutschland lange Zeit eine Art öffentliches Mitgefühlsverbot mit leidenden deutschen Zivilisten dominierte. Es war schwierig, neben den deutschen Verbrechen auch etwa die zivilen Opfer der verheerenden Luftangriffe der Alliierten in Hamburg, Dresden, im Ruhrgebiet oder anderswo zu benennen.
Das Schweigen habe für sie mitunter den Ausschlag gegeben, sich den Massensuizid als Romanthema vorzunehmen, sagt Verena Kessler. «Obwohl es in der Zwischenzeit mehrere historische Untersuchungen über das Geschehen vor 75 Jahren gibt, will in Demmin kaum jemand offen darüber reden», sagt Kessler.
Diese Verstocktheit im Umgang mit der Vergangenheit äussert sich etwa in den Fackelzügen, welche die rechtsextreme NPD in Demmin regelmässig am 8. Mai, dem Gedenktag zum Kriegsende, veranstaltet.
«Die Rechtsradikalen propagieren einen einseitigen Opfermythos», sagt Verena Kessler. «Hier die unschuldigen Deutschen, dort die gewalttätigen Sowjets.»
Wertvoller Beitrag
In Ihrem Roman geht die Autorin einen eigenständigen Weg. Sie stellt nicht den Massensuizid an sich ins Zentrum, sondern den bis heute problematischen Umgang damit.
Dabei nimmt sie das Leid der Opfer des Massensuizids ernst. Ebenso die Folgen für die Nachgeborenen bis heute. Aber gleichzeitig sät sie keinerlei Zweifel an den Verbrechen der Täternation Deutschland.
«Die Gespenster von Demmin» anerkennt, ohne zu negieren – und ist damit ein wertvoller Beitrag zum Dialog über ein Kapitel verdrängter Geschichte, das sich nicht verdrängen lässt.