«Die Kakerlake» heisst ein neuer Text des britischen Autors Ian McEwan, eine böse Satire auf den Brexit. In der Novelle verwandelt sich eine Kakerlake in den britischen Premier James Sams. Seine Aufgabe ist es, einen absurden Volksentscheid durchzusetzen.
Gabrielle Alioth hat das Buch gelesen. Sie habe viel gelacht, aber teilweise sei ihr das Lachen auch im Hals stecken geblieben. Im Interview erklärt sie, wieso das Büchlein ein so treffender Kommentar auf die aktuelle Situation in Grossbritannien ist.
SRF: Die Wirrungen des Brexits kommen ja selbst schon wie eine Satire daher. Kann denn McEwan mit «Der Kakerlake» noch etwas hinzufügen?
Gabrielle Alioth: Ja durchaus. McEwan beruft sich zwar auf Franz Kafkas «Die Verwandlung», aber er orientiert sich eigentlich mehr an Jonathan Swift, dem britischen Meister der Satire und des schwarzen Humors.
Anstelle des Brexits muss in McEwans Novelle eine ehemalige Kakerlake als britischer Premier den sogenannten «Reversialismus» umsetzen. Das ist ein Wirtschaftssystem, in dem die Geldströme umgekehrt fliessen: Die Arbeitnehmer bezahlen dafür, dass sie arbeiten dürfen und werden entlöhnt, wenn sie Dinge einkaufen. Das führt natürlich – wie auch beim Brexit – vor allem im Aussenhandel zu Problemen.
Und dieses Politchaos soll eine Ex-Kakerlake entwirren?
Ja. Zu seiner Erleichterung merkt Premier James Sams bald, dass sein gesamtes Kabinett – bis auf den Aussenminister – auch aus verwandelten Insekten besteht. Und dann macht sich Sams mit der Zielstrebigkeit einer Kakerlake daran, den absurden Volkswillen umzusetzen.
Es ist also genau umgekehrt wie bei Kafkas «Verwandlung». Hier werden Insekten zu Menschen.
Genau. Das ist auch einer der Punkte, in denen McEwans Novelle besticht. Auf der einen Seite ist es die Beschreibung einer manipulierbaren Demokratie. Andererseits ist es eine Wirklichkeit, die aus Kakerlaken-Sicht geschildert wird. Wenn Sams sich zum Beispiel überlegt, wie die halb tote Fliege in seiner Kaffeetasse schmecken würde, oder ob der amerikanische Präsident Archie Topper vielleicht früher auch sechs Beine hatte.
Das tönt in erster Linie lustig. Ist McEwans Kritik auch schmerzhaft, oder lässt er einfach nur Dampf ab?
McEwan hat nie ein Geheimnis daraus gemacht, dass er diese Novelle auch aus selbsttherapeutischen Gründen geschrieben hat, aus seiner persönlichen Verzweiflung heraus.
Beim Lesen merkt man, dass ihm das Schreiben sehr viel Spass gemacht hat. Aber er hält der politischen Klasse von heute auch einen Spiegel vor, und übt durchaus ernstzunehmende Kritik.
Wie reagierte das britische Feuilleton auf diese Novelle?
Die Reaktionen waren unterschiedlich. Die Brexit-Befürworter haben sich nicht dazu geäussert, sie haben das Buch ignoriert. Bei den Brexit-Gegnern fielen die Reaktionen verschieden aus: Der «Guardian» fand die Novelle erschreckend realistisch und fürchterlich plausibel.
Dem «Telegraph» war das Ganze etwas zu selbstgefällig, die «Financial Times» meinte, die Novelle gäbe wohl ungewollt einen Einblick in die Arroganz der Brexit-Gegner. Und die «Sunday Times» warf McEwan vor, er habe das nationale Drama im eigentlichen Sinne entmenschlicht und sich damit selbst geschadet.