Die Protagonistin in Tanja Maljartschuks aktuellem Roman ist zwischen 20 und 30 Jahre alt. Sie lebt in der ukrainischen Hauptstadt Kiew.
Die depressive Verstimmung sitzt tief: «Die Frage nach dem Wieso überdeckte alle anderen Fragen. Nicht wer ich bin, war wichtig, sondern wieso.»
Die junge Frau geht – scheinbar ohne Grund – in eine Kiewer Bibliothek und blättert dort ziellos in alten Zeitungen. Sie bleibt an einem Artikel hängen: dem Porträt eines gewissen Wjatscheslaw Lypynskyj.
Vergessener Kämpfer für die Unabhängigkeit
Sie beginnt zu lesen und erfährt, dass der längst vergessene Mann 1883 im Gebiet der heutigen Westukraine nördlich von Lemberg geboren wurde. Er verstarb 1931 mit knapp 50 Jahren an Tuberkulose.
Wjatscheslaw Lypynskyj war Historiker, Politiker, Diplomat. Er engagierte sich für einen unabhängigen ukrainischen Staat.
Sein Kampf blieb erfolglos: Die Ukraine wurde im Anschluss an den Ersten Weltkrieg nach einer kurzen eigenstaatlichen Phase Teil der Sowjetunion. Erst als diese 1991 zerfiel, erlangte das Land die Unabhängigkeit.
Die leidvolle Erfahrung der Geschichte
Dazwischen lagen lange Jahrzehnte der Tragödien: Stalinismus, Hungersnöte, Krieg, Unterdrückung, Bevormundung durch die Sowjetmacht. Bis 1991, bis zum Zusammenbruch mit den bekannten sozialen Verwerfungen.
Die depressive Ich-Erzählerin, in der in vielem die Autorin selbst durchscheint, schildert, wie sie historische Dokumente zu Wjatscheslaw Lypynskyj liest, seinen Geburtsort besucht.
Mehr und mehr verkörpert Lypynskyj für die schwermütige Frau das von der Ukraine erlittene historische Leid, das bis heute anhält: Im Osten des Landes herrscht noch immer Krieg.
Bei der Lektüre dieses feinsinnigen Romans verdichtet sich der Eindruck, dass die Ursachen der psychischen Irritation der Frau in der über lange Zeit andauernden politischen Entwurzelung des Landes liegen. Sie realisiert, wie sehr sie geprägt ist von der kollektiven Entwurzelung der Menschen in der Ukraine.
Suche nach den eigenen Wurzeln
Ihre Eltern und Grosseltern leiden unter Traumata, die das historische Geschehen verursachte. Die gleiche Erschütterung hat sich auf die Erzählerin übertragen.
Zudem war ihre Kindheit nach den Krisenjahren nach 1991 vom Gefühl des Verlorenseins bestimmt. Indem die Erzählerin die Lebensgeschichte Lypynskyjs aufrollt, sucht sie nach den eigenen Wurzeln als Ukrainerin.
Dem Elend einen Namen geben
Tanja Maljartschuk entwickelt den Zusammenhang zwischen der kollektiven Erfahrung in der Vergangenheit und der individuellen Krise in der Gegenwart behutsam, fragend, vage. Und immer auch zweifelnd. Er erschliesst sich nicht rational, sondern intuitiv.
Viel zum Gelingen dieses anspruchsvollen Romankonzepts trägt Tanja Maljartschuks Sprache bei: Sie ist – dem Suchen angepasst – poetisch, schwebend und dennoch stets so präzise, dass der Lesefluss nicht abbricht.
Am Ende der Clou: Indem die Ich-Erzählerin die Geschichte des vergessenen Wjatscheslaw Lypynskyj rekonstruiert, erhält auch ihr eigenes Leid endlich einen Namen. Eine Narration. Und es verliert dadurch an Gefährlichkeit.
Tanja Maljartschuks vorzüglicher Roman ist also mindestens dreierlei: das Protokoll einer psychischen Krise, die Aufarbeitung vergessener Kapitel der ukrainischen Geschichte – und eine Hommage an die heilende Kraft der Literatur.