Anna Felder war keine Vielschreiberin. Sie lasse sich eben viel Zeit, pflegte sie zu sagen. Das literarische Werk, das sie hinterlässt, ist entsprechend überschaubar: vier Romane, zahlreiche Erzählungen, zudem einige Hörspiele und Theaterstücke.
Doch Anna Felders Bücher haben es in sich: Sie bieten eine Literatur, bei deren Lektüre man förmlich spürt, wie sehr die Autorin die Sprache hat reifen lassen. Da gibt es nichts Geschwätziges. Kein Wort zu viel. Ganz auf das Wesentliche reduziert und verdichtet.
Oft ist es gerade das Ungesagte, das Tiefgründiges und Abgründiges sichtbar werden lässt: Einsamkeit und Trauer ebenso, wie kleine Momente des Genusses, des Glücks oder der Liebe.
Tessiner Wurzeln
Anna Felder wurde 1937 in Lugano geboren, als Tochter eines Deutschschweizer Vaters und einer italienischen Mutter. Sie studierte in Zürich und Paris Romanistik. Nach der Promotion liess sie sich in Aarau nieder, wo sie für Jahrzehnte an einem Gymnasium als Italienischlehrerin arbeitete.
Im Alter von gut 30 Jahren publizierte sie ihr Romandebüt «Quasi Heimweh» über das Los der italienischen Immigrantinnen und Immigranten in der Schweiz. Es war damals, Anfang der 1970er-Jahre im Umfeld der fremdenfeindlichen Schwarzenbach-Initiative politisch hoch brisant.
Der Roman «Umzug durch die Katzentür» von 1975 (it. Original 1974) berichtet von Menschen, die ihr Haus verlassen müssen. «Die Adelaiden» von 2010 (it. Original 2007) schildert ein älteres Paar am Abgrund zwischen Leben und Tod.
Virtuose Sprache voller Überraschungen
Nicht nur in den Romanen, sondern insbesondere auch in den Erzählungen – zuletzt im Band «Circolare» von 2018 (it. Original 2017) – zeigte Anna Felder eine Vorliebe für unscheinbare Begebenheiten und Begegnungen, denen sie mit ihrer musikalischen Sprache einen mystischen Zauber verlieh.
Dieser beruhte zu einem guten Teil auf dem Spiel mit Erwartungen und Irritationen, das die Autorin meisterhaft beherrschte: War etwa eine zunächst als völlig vertrackt geschilderte Ehe am Ende gar nicht kurz vor dem Zerfall? Und war das Gezänk von vorher vielmehr der Ausdruck tiefer Zuneigung?
Auch verblüffte Anna Felder immer wieder mit ungewohnten Perspektivenwechseln: Plötzlich erzählte sie aus der Sicht einer Katze. Oder einer Eisenbahn, die sich über ihre Passagiere wunderte. Oder ein Motorradhelm entwickelte ein Eigenleben.
In keinem ihrer Werke bot Anna Felder billigen Trost oder gar Rezepte fürs Leben an. Im Schreiben sei sie stets eine Suchende geblieben, sagte Anna Felder einmal: «Meine Erzählungen bringen keine Antworten. Zum Glück! So fragen wir immer weiter, so schreiben wir immer weiter.»
Zwischen den Sprachräumen
Anna Felder blieb zeit ihres Lebens eine Grenzgängerin zwischen den Sprachen und den Kulturen. Ihre Werke schrieb sie auf Italienisch und bis ins hohe Alter reiste sie immer wieder ins Tessin.
Die Ankunft in Lugano erlebe sie jedes Mal von Neuem als Zauber, sagte sie einmal: die völlig anderen Laute der Sprache, die Gerüche. Gleichzeitig mochte sie aber auch die Deutschschweiz. Ihr Deutsch war so gut, dass sie sich mit den Übersetzerinnen und Übersetzern, die ihre Werke ins Deutsche übertrugen, auf Augenhöhe über Details austauschen konnte.
Anna Felder wurde mit zahlreichen Preisen und Auszeichnungen geehrt. 2018 erhielt sie für ihr Lebenswerk den «Grand Prix Literatur» der Eidgenossenschaft, den renommiertesten Schweizer Literaturpreis.