«Mutter beginnt zu verstehen, dass manches unweigerlich das letzte Mal geschieht, und ich erkenne in ihren Augen ein Erstaunen, als würde sie die Welt auf eine Art inniger betrachten.» Es sind Sätze wie dieser, welche besonders tief gehen bei der Lektüre des neusten Werks der schweiz-österreichischen Autorin Melitta Breznik.
Der Tod ist in ihrem literarischen Werk seit jeher präsent. In diesem sechsten Roman rückt sie jedoch das Sterben so konsequent ins Zentrum wie noch nie.
Die Sterbende begleiten
Das Buch spielt in unserer Zeit und erzählt von den letzten Wochen einer fiktiven Frau. Sie ist 91-jährig und unheilbar krebskrank.
Der zeitliche Bogen erstreckt sich über zwei Monate: von dem Moment, da die Frau die tödliche Diagnose erhält, bis zum Hinschied. Während dieser letzten Lebenswochen liegt sie auf dem Bett in ihrer Wohnung und wird von ihrer 50-jährigen Tochter begleitet.
Das Ende dokumentieren
Die Tochter ist die Erzählerin und berichtet nüchtern, ungeschminkt, ja mit geradezu dokumentarischer Akribie, vom langsamen Verfall der Mutter. Und sie reflektiert ihre eigene Überforderung, weil sie sich auf das Sterben «nicht vorbereiten» konnte, weil es «nicht aus dem eigenen Erleben kommt».
Kindheitserinnerungen poppen auf. Erlebnisse mit der Mutter in der Natur. Pilze sammeln im Herbst. Oder Omeletten kochen, gefüllt mit gemeinsam gepflückten Heidelbeeren. Wehmut. Doch Erinnerungen wie diese helfen der Tochter im Zimmer der Sterbenden, nicht «aus der Welt zu fallen».
Erlebnisse, die schmerzen
Die Besinnung auf die Vergangenheit ist indessen nicht nur tröstlich. Bruchstückhaft scheint manches auf, das ungeklärt geblieben ist. Etwa die frühe Schwangerschaft der Tochter.
Sie hätte damals das Kind gerne bekommen. Die Mutter hat sie zum Abbruch gedrängt. «Entschuldigt hat sie sich nie.» Für eine Klärung ist es jetzt zu spät.
Melitta Breznik geht ganz nah heran: Nie wendet sich der Blick ab – nicht von der Mutter, die gehen muss. Und auch nicht von der emotionalen Ambivalenz der Tochter.
Schreibende Ärztin
Die Autorin meistert die schwere Kost ihres Buchs literarisch souverän. Was nicht erstaunt: Zum einen hat Melitta Breznik ihre Kunst immer wieder unter Beweis gestellt und dafür auch mehrere Preise erhalten, eben erst den renommierten ProLitteris-Preis.
Zum anderen kann die 59-jährige Schriftstellerin, die in Sent lebt, auch von ihrer Erfahrung als Ärztin und Psychiaterin am Regionalspital Scuol zehren: Dort hat sie oft mit todkranken Patientinnen und Patienten zu tun. Und mit deren Angehörigen.
Melitta Brezniks Roman liefert keinen billigen Trost und schon gar keine Rezepte, wie dem Tod am besten zu begegnen sei. Aber es macht Mut, sich der Frage zu stellen, wie man sich denn selbst zum Sterben verhalten möchte. Dem eigenen und dem der Nächsten.
Wo stehe ich?
Werde ich da sein, wenn einer meiner Nächsten den letzten Atemzug tut? Oder fürchte ich mich davor? Ist mir das Begleiten zu aufwendig, zu langwierig?
In diesem Sinn ist das Buch auch ein – unbequemer – Zwischenruf in unserer Zeit, welche die Endlichkeit des Lebens recht eigentlich tabuisiert. Und die das Sterben mit Vorliebe an Institutionen delegiert. Melitta Breznik leuchtet in einen dunklen Winkel. Und das ist gut so.