SRF: Welche Rolle spielen Erich Kästner und seine Bücher in ihrem Leben?
Annette Baumeister: Obwohl ich in meiner Kindheit «Pünktchen und Anton» und «Emil und die Detektive» geschenkt bekommen habe, habe ich Kästner erst sehr spät für mich entdeckt.
Vermutlich habe ich seine Kinderbücher zu früh bekommen und war von deren Realismus abgeschreckt. Erst im Studium habe ich seine Gedichte und den «Fabian» für mich entdeckt und habe angefangen, die Kinderbücher wieder zu lesen.
Ist Kästner noch aktuell?
Ja, weil er selber als Autor und Mensch seiner Zeit voraus war. Seine Stoffe, egal ob in den Büchern oder Gedichten, berühren uns noch heute, weil er unsere Sorgen, Nöte und Ängste so unglaublich treffend beschreibt.
Man sieht die Modernität seiner Bücher daran, dass sie immer wieder verfilmt werden. Mit «Emil und die Detektive» hat Kästner ein neues Genre entwickelt, den Kinderdetektiv. Das gab es vor ihm nicht. Emil ist sozusagen der Vorläufer von «Fünf Freunde» und allen Detektivgeschichten, die es bis heute in der Literatur und im Film gibt.
Das vergessen wir, wenn wir heute an Erich Kästner denken: Dieses Hadern und Ringen mit sich.
Gibt es einen «unbekannten Kästner»?
Die grösste Überraschung war für mich der Mensch und Autor, der in der Nachkriegszeit so mit sich gerungen hat, weil es ihm nicht gelungen ist, einen Roman über das dritte Reich zu schreiben.
Dieser Roman wäre der Beleg dafür gewesen, warum es richtig war, im dritten Reich zu bleiben. Das vergessen wir, wenn wir heute an Erich Kästner denken: Dieses Hadern und Ringen mit sich.
Der «unbekannte Kästner» ist natürlich auch der Mensch, der sich nicht entscheiden konnte. Er konnte sich nicht für eine Frau entscheiden und hat damit ganz vielen Menschen, unter anderem seinem Sohn, sehr weh getan hat.
Wieso hat Kästner trotz Anfeindungen Deutschland nie verlassen?
Ich selber kann das nicht beantworten. Es gibt ein Gedicht, in dem er das zu beschreiben versucht: «Ich bin ein Deutscher aus Dresden in Sachsen. Mich lässt die Heimat nicht fort. Ich bin wie ein Baum, der – in Deutschland gewachsen – wenn’s sein muss, in Deutschland verdorrt.» Ich glaube, er sagt darin alles.
Er war kein glücklicher Mensch.
Was ist ihnen wichtig hervorzuheben?
Erich Kästner war um die 30, als die Nationalsozialisten an die Macht kamen. Er war auf dem Höhepunkt seines Erfolges. Er hatte «Emil und die Detektive» und «Fabian» geschrieben, er hatte Gedichte geschrieben und war damit unglaublich erfolgreich. Der Nationalsozialismus hat ihn seine Karriere gekostet.
Wenn wir heute an Erich Kästner denken, dann denken wir immer an das Werk, das er vor dem Nationalsozialismus geschrieben hat. Wenn man sich überlegt, was er noch alles hätte schreiben können, wenn es den Nationalsozialismus nicht gegeben hätte, dann stimmt das traurig.
Ich glaube, diese Traurigkeit durchzieht auch sein Leben. Er war kein glücklicher Mensch. Mit dem Nationalsozialismus und mit dem Verbrennen seiner Bücher ist ein Teil seines Lebens zerstört worden. Heute denkt man immer an den netten Kinderbuchautor. Dass in Kästners Leben so viel Dunkelheit und so viel Hadern mit sich selbst war, das finde ich spannend.
Das Gespräch führte Jana Füglistaler.