Es gibt verschiedene Erklärungen für den aktuellen Mundartboom in der Schweiz: Rückbesinnung auf das Regionale als Reaktion auf die Globalisierung ist bestimmt ein wichtiger Grund.
Zudem hat sich die Mundart auch von der Verbindung zu einer idealisierten, idyllischen Schweiz gelöst. So werden Dichter heute nicht automatisch in die nationalistische Ecke gestellt, wenn sie in ihrem Dialekt schreiben.
In allen Gattungen
Der Mundartboom zeigt sich in allen literarischen Gattungen, besonders auch in der Lyrik. Neben dem Theater ist die Lyrik seit dem 19. Jahrhundert Jahrhunderten die wichtigste Gattung für Mundartliteratur.
Mundartgedichte und -lieder sind fest in der Volkskultur verankert – im Gegensatz etwa zum Mundartroman, der Mühe bekundet, sich zu etablieren.
Grösser, breiter, besser
Die Deutschschweizer Mundartlyrik befindet sich tatsächlich in einem Hoch, und dies in verschiedenster Hinsicht. Menge, Qualität und Renommee haben in den vergangenen Jahren stark zugenommen.
Und in ihren Erscheinungsformen ist die Mundartlyrik viel breiter geworden: Neben Liedern und Gedichten gibt es die immer grösser werdende Poetry-Slam-Szene, welche viel Wert auf den Live-Auftritt legt.
Bei den klassischen Gedichten ist Hanspeter Müller-Drossaart der Mann der Stunde. Mit seinem zweiten Gedichtband «gredi üüfe» hat er im vergangenen Frühling ein Werk von hoher stilistischer und inhaltlicher Qualität vorgelegt. In diesen urnerdeutschen Gedichten thematisiert Müller-Drossaart Ambivalenzen im ländlichen Leben, das vielschichtiger ist, als viele denken.
Weniger Buch, mehr Auftritt
Der Trend in der Mundartlyrik geht heute allerdings weg von den klassischen gedruckten Gedichten, die man still für sich liest, hin zur performativen Wortkunst, wo Autorinnen ihre Texte einem Publikum live vortragen.
Die Poetry-Slam-Szene wird von Jahr zu Jahr grösser und bekannter. Dort ist momentan eine «Comedysierung» zu beobachten: Die Texte bewegen sich weg von der rhythmischen und eher ernsten Dichtkunst und hin zur Stand-Up-Comedy. Exemplarisch für diesen Trend steht der aktuelle Poetry-Slam-Schweizermeister Kilian Ziegler .
Dem Rhythmus und der dichterischen Sprache treu geblieben ist dagegen der Zürcher Jurczok 1001 , einer der Pioniere des Poetry Slam in der Deutschschweiz. Heute tritt er mit verblüffenden Text- und Klangkreationen auf, die er «Spoken Beats» nennt.
Über den Rand der eigenen Mundart hinaus blickt die immer wieder anders zusammengesetzte Dichterinnen- und Musikergruppe «Bern ist überall». Sie mischt seit einigen Jahren auf der Bühne Berndeutsch mit anderen Mundarten und mit Französisch, Englisch, Albanisch und weiteren Sprachen.
Die Ostschweiz holt auf
Zur Lyrik gehören seit je auch gesungene Lieder. Auch diese Szene, die Mundartmusik, hat sich stark differenziert: Es gibt heute Mundartlieder in jedem Stil, von Hip-Hop über Jodel bis Reggae, und in jedem Dialekt.
Vor allem die Ostschweizer Dialekte haben in den letzten Jahren aufgeholt und stellen mit Stahlberger , Min King , Papst & Abstinenzler oder Dachs einige der innovativsten und besten Mundartbands der Gegenwart. Auch Zürich ist wieder im Kommen, mit Talenten wie Dabu Fantastic oder Stereo Luchs .
Die Berner Mundartmusikszene ist zwar nicht mehr allgegenwärtig, aber das aktuell beliebteste Mundartlied der Schweiz, das landauf, landab mitgesungen und -gesummt wird, ist «079» vom Berner Duo Lo & Leduc.
Die beiden zeigen, dass sich die jungen Berner von den Übervätern wie Mani Matter oder Polo Hofer emanzipiert haben.
Grosse thematische Vielfalt
Thematisch wird dem Mundartmusikpublikum alles geboten: Die eher seichten Oden an die Schweizer Idylle mit Haus, Frau und Kind beherrschen Volkspop-Sänger wie Trauffer oder Gölä fast bis zur Perfektion – und der Erfolg gibt ihnen Recht.
Aber es gibt auch mehr und mehr anspruchsvolle und ausgefeilte Texte, die sich mit Widersprüchlichem befassen, zum Beispiel vom Berner Oberländer Singer-Songwriter Christoph Trummer oder von der Berner Rapperin Steff la Cheffe .
Es ist offensichtlich: Die Mundartlyrik in der Deutschschweiz ist in den letzten Jahren äusserst vielfältig geworden. Es gibt mehr Stile, mehr Dialekte, mehr Themen und – wichtig – auch mehr Qualität. So soll es weitergehen.