80 Jahre her ist es, dass Hitler auf dem Wiener Heldenplatz mit viel Pathos den Anschluss Österreichs ans Nazi-Reich verkündete. Die Menge kreischte und jubelte dem Diktator zu. So zumindest ist der Eindruck, den uns die Schwarzweiss-Bilder aus jener Zeit vermitteln.
Erzeugte Wirklichkeit
Doch der Schein trügt. Die Bilder stammen aus Goebbels’ Propagandamaschinerie. Noch heute, 80 Jahre später, sind wir von diesem Material geprägt – in Schulbücher und zahllosen Dokumentarfilmen. Historische Aufnahmen, die ein anderes Bild zeigen würden, gibt es kaum.
Éric Vuillards neues Buch beschreibt, dass die Jubelmenge jedoch in Wirklichkeit ein Kunstprodukt war: Die Nazis hatten aus halb Österreich Anhänger auf den Heldenplatz gekarrt. Zwecks cineastischer Inszenierung.
Kritiker, die es durchaus gab, waren mundtot gemacht worden: Sie sassen bereits im Gefängnis oder waren ermordet worden. Oder sie hatten ihrem Leben aus Verzweiflung selbst ein Ende gesetzt.
Die Wehrmacht im Stau
Eine besonders eindrucksvolle Passage zeigt, wie die Invasion der deutschen Wehrmacht im Nachbarland verlief.
Das Erstaunliche: Die deutschen Panzerverbände agierten keineswegs so diszipliniert, schlagkräftig und glorios, wie uns dies die von den Nazis fabrizierten Filmaufnahmen von damals glauben machen wollen.
Vielmehr war die Militäraktion von peinlichen Pannen begleitet: Treibstoffmangel, Motorschäden, schlechtes Kartenmaterial. Stau. Chaos total. Hitler schäumte vor Wut.
Die Katastrophe in Episoden
Éric Vuillard wurde für «Die Tagesordnung» mit dem Prix Goncourt ausgezeichnet, dem höchsten französischen Literaturpreis. Tatsächlich bewegt sich der Franzose auf hohem literarischem Niveau.
Wie in anderen Werken zu historischen Themen schildert der Autor auch in seinem aktuellen Buch das Geschehen in einzelnen klug ausgewählten Episoden.
Dabei kommt neben dem Auftritt auf dem Heldenplatz oder dem Panzerstau etwa auch jene legendäre Unterredung des österreichischen Bundeskanzlers Schuschnigg mit Hitler auf dem Berghof zur Sprache, während derer ersterer klein beigab und dem «Führer» sein Land widerstandslos abtrat.
Besuch bei Chamberlain
Oder ein Lunch des britischen Premiers Chamberlain mit dem deutschen Aussenminister Ribbentrop, wo es ersterer aus Höflichkeit – man glaubt es kaum! – nicht schafft, dem kaltschnäuzigen Gebaren seines deutschen Gastes entgegenzutreten.
Chamberlain erscheint als unerträglich duckmäuserische Null. Völlig überfordert vom Gebot der Stunde, den aggressiv auftretenden Nazigrössen entgegenzutreten.
Feiglinge statt Opfer?
Klar: Die bedenkliche Rolle, die britische, österreichische und auch französische Politiker in den 1930er-Jahren spielten und dadurch Hitlers rücksichtslosen Expansionskurs und damit die Katastrophe des Zweiten Weltkriegs erst ermöglichten, ist schon lange bekannt und auch kaum bestritten.
Dennoch gelten diese Staatsmänner in unserer Wahrnehmung noch immer in erster Linie als Opfer des nationalsozialistischen Machtstrebens.
Bei der Lektüre des Romans verschiebt sich der Eindruck: Hätte es nicht doch Spielraum gegeben zum Widerstand? Waren Schuschnigg, Chamberlain und Co. am Ende nicht Opfer, sondern jämmerliche Versager, ja schlicht Feiglinge?
Geschichte gegen den Strich bürsten
Éric Vuillard tut in seinem Roman, was auch gute Historiker tun: Er bürstet die Geschichte gegen den Strich und stellt festgefahrene Bilder in Frage.
Er hat vor der Niederschrift die historischen Quellen studiert: die Memoiren der damaligen Akteure oder die Protokolle der Nürnberger Prozesse gegen die Naziverbrecher nach dem Krieg.
Neue Ästhetik
Der Roman folgt zwar streng den historischen Fakten. Der Autor schmückt diese aber immer auch literarisch aus und kommentiert das Geschehen aus heutiger Sicht – getrieben von der Frage, ob am Ende nicht doch alles ein bisschen anders war, als wir heute alle meinen.
Ein abschliessendes Bild liefert «Die Tagesordnung» nicht. Zu gross wäre dieser Anspruch. Der Roman durchbricht aber zumindest Stilisierungen und Verklärungen, die sich eingeschliffen haben.
Er eröffnet neue Perspektiven auf das damalige Geschehen und verleiht ihm eine neue Ästhetik. Sie liegt fernab von Heroisierung und Opfermythos.