Knut Hamsun? Ist das nicht der, der den Nazis nachlief? Der Hitlers Propagandaminister Joseph Goebbels die Nobelpreismedaille schenkte? Und der die Judenverfolgung rechtfertigte? Genau, das ist Knut Hamsun.
Auf seine alten Tage hin hing der 1859 Geborene völkischen und nationalchauvinistischen Gesinnungen an und bekannte sich offen zu den Nazis.
Hamsuns Verfehlungen sind unbestritten. Und sie wiegen schwer. Ebenso unbestritten ist indessen Hamsuns literarische Exzellenz.
Die Gelegenheit, sie kennenzulernen, bietet die Neuübersetzung von Knut Hamsuns Debütroman «Hunger» durch Ulrich Sonnenberg. Es ist die erste deutsche Übertragung der Urfassung des Werks von 1890.
Text und Gesinnung im steten Wandel
Dies ist deshalb von Bedeutung, weil Hamsun seinen «Hunger»-Roman im Laufe der Jahrzehnte mehrfach umschrieb. Parallel zu seinem bedenklichen politischen Wandel strich er Sexszenen, tilgte Gotteslästerungen, eliminierte Kritik am Staat.
Bei der Lektüre der schnörkellos-kargen Sprache der Urfassung erschliesst sich Leserinnen und Lesern ein Text, dem man sich nicht entziehen kann. Auch heute noch, über 130 Jahre später.
Man darf sich der sprachlichen Wucht des Textes ohne moralische Skrupel hingeben, denn «Hunger» hat keinerlei faschistoide Schlagseite. Kann er gar nicht: Bei der Niederschrift gab es den Faschismus noch nicht. Dieser kam erst in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts auf, der 1889 geborene Hitler steckte noch in Windeln.
Am Rand der Gesellschaft
Die Geschichte des Romans geht an die Nieren: Ein brotloser Journalist irrt durch die Strassen von Kristiana, dem heutigen Oslo. Er hat weder Geld noch Freunde. Helfen lassen will er sich nicht. Zu gross ist die Scham. Und so hungert er, schleppt sich halluzinierend durch Parks und Gassen, voll Hass auf die Welt und auf sich selbst.
Schon mit dem ersten Satz des Romans bringt der Mann seine existenzielle Not auf den Punkt: «Es war zu der Zeit, als ich hungrig in Kristiana umherging, dieser sonderbaren Stadt, die niemand verlässt, bevor er von ihr gezeichnet worden ist.»
Hamsun selbst war ein vom Hunger Gezeichneter – in den langen Jahren, bevor er mit «Hunger» seinen literarischen Durchbruch erlebte. Bevor er mit Romanen wie «Pan» oder «Segen der Erde» Weltruhm erlangte und 1920 den Nobelpreis erhielt.
Revolutionäre Erzählperspektive
Aber auch die Art und Weise der Erzählung macht diesen Roman so dringlich: Im Unterschied zur realistischen Erzähltradition des 19. Jahrhunderts bot der damals 30-jährige Hamsun keine objektive Darstellung der Verhältnisse. Der Blick seines Protagonisten auf die Welt ist radikal subjektiv.
In einem nicht abbrechenden Gedankenstrom schildert er sein hartes Los. Voller Emotionen und Widersprüchlichkeiten. Mal aggressiv, mal devot. Er zeigt seine widerlichen Seiten. Dann wieder ist er voller Liebenswürdigkeit. Ein Mensch eben.
Ein Stück Literaturgeschichte
Hamsuns Debüt geriet zum Meilenstein für den modernen psychologischen Roman. James Joyce, Thomas Mann, Robert Musil, Ernest Hemingway – sie alle waren Bewunderer von Hamsuns Kunst und griffen seine Erzähltechnik auf.
«Hunger» ist ein literaturgeschichtliches Monument. Aber – mit Blick auf Hamsuns spätere Verirrungen – auch der Beweis dafür, dass selbst Dichter mit grösstem Talent und imposanter Schaffenskraft nicht gefeit sind vor Irrtum und Verfehlung.