Wenn ein Preisträger des renommierten französischen Literaturpreises «Prix Goncourt» eine Graphic Novel verfasst, dann sind die Erwartungen hoch. Der Romancier, Dichter und Orientalist Mathias Énard hat genau dies getan.
Für die Graphic Novel hat er mit der bekannten Zeichnerin Zeina Abirached zusammengearbeitet, die sich mit einer Reihe von autobiographischen Comics über ihr Aufwachsen im kriegsversehrten Beirut einen Namen gemacht hat.
Streng und verspielt
«Zuflucht nehmen» ist ein gewichtiges Buch: 350 Seiten schwer, ein echter Schmöker. Schlägt man ihn auf, fällt als erstes Zeina Abiracheds eigenwillige Bildsprache auf. Sie zeichnet schwarzweiss, verzichtet ganz auf Grautöne und damit auf räumliche Tiefe.
Sie arbeitet mit stilisierten, nahezu abstrakten Formen und verknüpft die Einzelbilder zu raffiniert komponierten Doppelseiten. Dabei verschränken sich geometrische Strenge und ornamentale Verspieltheit auf immer wieder verblüffende Weise.
Berlin und Afghanistan
Diese Bildsprache zieht zunächst geradezu magnetisch in Mathias Énards Geschichte, die zwei Zeitebenen, zwei Kontinente und zwei Liebeaffären verknüpft.
Die eine Liebesgeschichte spielt sich im heutigen Berlin ab: Der Architekt Karsten verliebt sich in die syrische Migrantin Neyla, eine Astronomin, die vor dem Bürgerkrieg geflüchtet ist, im grauen deutschen Alltag aber nicht glücklich wird.
Die andere spielt sich am Vorabend des zweiten Weltkriegs ab, in einer buddhistischen Ausgrabungsstätte in Afghanistan: Die Schweizer Schriftstellerin Annemarie Schwarzenbach hat, unter den Augen aufmerksamer Buddhastatuen, eine Affäre mit einer verheirateten Archäologin.
Spannungsvolle Konstellationen
Die Ausgangslage ist vielversprechend. «Zuflucht nehmen» verknüpft Gegenwart und Vergangenheit, unterschiedliche Formen von Kriegsbedrohung und Zufluchtshoffnungen, unterschiedliche Formen von Exil und Migration.
Es prallen Kulturen, Werte und Religionen aufeinander und nicht zuletzt auch heikle emotionale Konstellationen. Allerdings entwickelt «Zuflucht nehmen» keine echte Dynamik. Das liegt daran, dass die Figuren uns weitgehend fremd bleiben.
Statt Persönlichkeiten sind sie Typen: Neyla ist «die Migrantin», Karsten «der Deutsche». So ist es schwierig nachzuvollziehen, warum sie sich so rasch ineinander verlieben und sich so rasch wieder voneinander trennen.
Da werden die Grenzen von Abiracheds flachen und kühlen Zeichnungen spürbar: Sie halten unseren Blick an der Oberfläche auf und erlauben keinen Einblick ins Innenleben.
Plattgewalzte Subtilität
Erzählerisch steckt «Zuflucht nehmen» voller subtiler und stimmiger Momente und starker metaphorischer Bilder. Statt diese Szenen poetisch zu verdichten und nachwirken zu lassen, werden sie vielfach aus- und plattgewalzt, bisweilen seitenlang.
Weil überdies kaum Humor und Leichtigkeit auszumachen sind, drängt sich der ungute Eindruck auf, da werde mit allen Mitteln versucht, Ernsthaftigkeit und Tiefe zu suggerieren – und das wiederum wirkt vor allem prätentiös.
«Zuflucht nehmen» ist ein nicht eingelöstes Versprechen. Mit diesem Stoff, dieser Zeichnerin, diesem Autor wäre weit mehr möglich gewesen. Damit stellt «Zuflucht nehmen» vor allem etwas klar: Ein guter Schriftsteller ist nicht automatisch ein guter Comic-Autor.