«Zeit ist eine Mutter». So heisst der neue Lyrikband von Ocean Vuong. Dass bereits im Titel das Wort «Mutter» vorkommt, dürfte niemanden wundern, der schon ein anderes Werk von Vuong kennt: Sein Erfolgsroman «Auf Erden sind wir kurz grandios» war ein knapp 300 Seiten langer Brief an seine Mutter. Ein Brief, den seine Mutter aber gar nicht lesen konnte, denn sie war Analphabetin.
Dieser Briefroman hat Ocean Vuong im Jahr 2019 zum gefeierten Literatur-Star gemacht. Doch sein berufliches Glück wurde bald getrübt: Nicht lange nach dem Erscheinen des Buchs verstarb Vuongs Mutter. In seinem neuen Lyrikband trauert er um sie. Ihr ist auch das Buch gewidmet. Sie taucht in den Gedichten immer wieder auf.
Zerrissen zwischen zwei Kulturen
Neben dem Verlust seiner Mutter ist auch das Dasein als Migrant ein Thema des Gedichtbands: Vuongs Zerrissenheit zwischen der asiatischen und der US-amerikanischen Kultur. Ocean Vuong kam 1988 in Vietnam zur Welt und als Zweijähriger mit seiner Mutter in die USA.
Weitere Themen: das Aussenseitertum, seine Homosexualität und Freunde, die an Drogen zugrunde gingen. All dies sind Sujets, die bei Ocean Vuong schon früher eine Rolle spielten. Neu hinzugekommen ist sein literarischer Erfolg.
Dem ungewohnten Ruhm scheint Ocean Vuong nicht so recht über den Weg zu trauen. Und so lässt er sein lyrisches Ich einmal sagen: «Tretet zurück – ich bin ein Verlierer mit einer Glückssträhne.»
Mischung aus Lyrik und Prosa
Es gibt keine Reime in diesem Gedichtband. Auch keine festen Verslängen. Manche Gedichte füllen nur eine halbe Seite, andere ganze zehn. Und so wie Vuongs Roman «Auf Erden sind wir kurz grandios» viele lyrische Elemente enthielt, so enthält nun «Zeit ist eine Mutter» viele längere Prosapassagen. Vuong vermischt die Genres.
Aus seinen Worten spricht, wie früher schon, eine traurige Weltverlorenheit. Als Motive kommen oft die «Nacht» vor. Zudem Tiere, Käfige, Kälte, Stürme, Stille und Schnee. Zwischen Ocean Vuongs assoziativen, oft surrealistischen Bildern finden sich dann zum Glück immer wieder klarere Gedanken, an denen man sich beim Lesen festhalten kann.
Mitunter stellt er auch schöne Fragen wie: «Ist die Erinnerung an ein Lied der Schatten eines Klanges?», oder: «Wieso ist die Vergangenheitsform immer länger?».
Konkret, knapp und virtuos
Übersetzt hat den Lyrikband Anne-Kristin Mittag. Sie hat bereits Vuongs erste Gedichte-Sammlung «Nachthimmel mit Austrittswunden» und den Roman «Auf Erden sind wir kurz grandios» ins Deutsche übertragen. Sie kennt Vuongs Sprache also bestens.
Auch die Übersetzung von «Zeit ist eine Mutter» ist ihr sehr gut gelungen. Sie hat sich alle notwendige Freiheit genommen, aus Vuongs englischer Lyrik deutsche Lyrik zu formen und seine virtuosen Sprachbilder zu transportieren. Trotzdem wirkt das Original drängender, konkreter, knapper.
Es wäre deshalb schön gewesen, wenn sich der Verlag für eine zweisprachige Ausgabe entschieden hätte. So hätte man beim Lesen hin und wieder einen Blick auf Ocean Vuongs Wortwahl und seinen originären Rhythmus werfen können.