Seit 33 Jahren ist Herr Anselm Schulhausabwart in einem Bündner Bergdorf. Wir treffen ihn am Grab seiner Frau und hören ihn erzählen, dass auf Ende Schuljahr die Dorfschule geschlossen wird.
Ausgerechnet die Schule, das «Flaggschiff, das Orientierung gibt in all dem Chaos dort draussen in der Welt», wie er klagt. Der Gemeindepräsident, dieser «Peppone mit dem Moustache wie eine Schuhbürste zmitzt durchs Gesicht», war zu feige, die Schulangestellen persönlich zu informieren.
Das besorgte ein schnöder Aushang. Er, Herr Anselm, der von Tante Tresa noch Anstand gelernt hat, ist machtlos. Aber er wird guten Mutes auf seinem Posten ausharren, wie seinerzeit die vier Musiker auf der sinkenden Titanic.
Dreckige Politik und traditionelle Werte
Dennoch lösen die «novitads catastrofalas» bei Herrn Anselm einen Wirbelsturm an Erinnerungen, Anekdoten und Gedanken zum Zustand der Welt aus.
Wenn Menschen wie der «Bschiissihund aus La Merica» Vorbilder werden, wenn der Sommer «lang wie eine Autobahn» ist und das Wasser auch hier oben immer rarer wird – dann behält Herr Anselm einen klaren Kopf und sagt, was gesagt sein muss.
Dass man Kinder nicht anlügen darf. Dass uns die schlauen Geräte im Hosensack nicht gesünder machen. Er sagt auch: «Das Unglück findet dich immer, aber das Glück findet dich eba nur, wenn du dich ihm zeigst.» Herr Anselm öffnet das ganze Panorama des Dorflebens und ist um keine Lebensweisheit verlegen.
Die Drohung des endgültigen Verschwindens
In den Anekdoten und Gedanken von Herrn Anselm steckt zwar stets eine Prise Humor, aber im Kern auch die Ahnung des Todes. Etwa, wenn er sein Töffli vor dem Schulhaus abstellt. Dann kontrolliert er den Tankdeckel, damit ihm nicht etwa ein Lausbube Zucker in den Tank schüttet.
Dieser würde sich nämlich wie ein Krebs in den Motor fressen und der würde einen langsamen Tod sterben. Herr Anselm erzählt rührend, oberflächlich und harmlos – und reisst doch stets den Abgrund des endgültigen Verschwindens auf.
Eine überbordende Erzählsprache
Ein Lesespass ist dieses düstere Panorama einer wegbröckelnden Kultur trotzdem, dank der charakteristischen Erzählsprache Arno Camenischs.
Eine Erzählsprache, die extrem von der Mündlichkeit geprägt ist, grundsätzlich Standarddeutsch, aber voll von saftigen Wörtern aus dem Bündner Dialekt und aus dem Rätoromanischen und gespickt mit oft überraschenden Bildern und Vergleichen.
So hat etwa der junge Doktor Konrad im Dorf ein Lächeln «schön wie ein Badezimmer». Oder die Kinder schauen ihn, Herrn Anselm, wenn er einmal einspringen muss für einen kranken Lehrer, an, «als hättest du eine Pfanne auf dem Kopf».
Der ureigene Ton des Arno Camenisch
Herr Anselm ist eines von Arno Camenischs sattsam bekannten, nennen wir sie «Alpentierchen». Nichts Neues in diesem Universum, werden die Kenner vielleicht urteilen. Stimmt.
Aber kritisieren sie auch einen Christoph Marthaler dafür, dass er seit Jahr und Tag dieselbe Art von Theater inszeniert? Die Rolling Stones, dass ihre Alben stets nach Rock'n'Roll klingen? Müssen sich Schriftsteller mehr als andere Künstler weiterentwickeln, sogar neu erfinden?
Arno Camenisch kommt aus der Performance-Literatur, die für die Bühne geschrieben wird und vom eigenen Ton lebt, besonders, wenn der Autor selber liest.
Und einen solchen ureigenen Ton hat Arno Camenisch gefunden für seine Literatur, einen Ton, den es so vorher nicht gab. Und diesen Ton, diese Handschrift, pflegt und verfeinert er von Buch zu Buch. Das ist eine seltene Qualität.