Zunächst wirkt Camenischs neuer Roman «Der Schatten über dem Dorf» wie alle vorigen. Der Erzähler erinnert sich assoziativ an Menschen, Orte und Ereignisse aus dem Bündner Bergdorf des 20. Jahrhunderts. Dadurch dokumentiert er diese im Verschwinden begriffene Kultur mit literarischen Mitteln.
Jede Hausecke und jede Strassenbiegung stimmen mit seinem Heimatdorf Tavanasa in der Surselva überein. Aber diesmal lässt Camenisch weder die Kioskfrau noch den Schulhausabwart stellvertretend reden. Diesmal ist der Erzähler persönlich involviert – und das sichert ihm die Empathie des Lesenden.
Ohne «Calöri» und «Coffertori»
Der vertraute Camenisch-Sound klingt zwar im inneren Ohr, die rauchige Stimme des Autors und die leicht unebene Erzählsprache des Bündnerromanen.
Aber erstmals kommt diese Sprache gänzlich ohne die notorischen Wortbrocken aus dem Rätoromanischen und aus dem Bündner Dialekt aus. Also ohne die «Calöri», «Carrettas» und das «Coffertori».
So sehr einem diese Sprache der vor sich hin philosophierenden Bergschrate ans Herz gewachsen ist: Hier fehlt sie nicht. Hier spricht einer ganz aus sich heraus und vertraut zurecht darauf, dass seine Geschichte von alleine trägt.
Die Katastrophe
Neu ist auch, dass sich die verstückelten Erinnerungen um ein zentrales Ereignis gruppieren: um eine Katastrophe, die anderthalb Jahre vor der Geburt des Erzählers passiert ist: Drei Kinder zwischen 9 und 11 Jahren sterben bei einem Selbstunfall.
Die Dorfgemeinschaft, die wie eine grosse Familie zusammenlebt, versinkt in kollektiver Trauer. Was den Erzähler umtreibt, ist die Frage, wie man eine solche Katastrophe überhaupt bewältigen kann.
Alte Schauplätze, neue Szenerien
Spazierend und erinnernd, ist die Antwort. Der Erzähler, der sich offensichtlich weitgehend mit dem Autor deckt, besucht im Heute das Dorf seiner Kindheit, in dem er längst nicht mehr lebt.
Er spaziert all die Erinnerungsorte ab, die Camenisch-Lesende aus den früheren Büchern kennen: von der längst geschlossenen Beiz der Tante bis zum Platz hinter dem Bahnhof.
Hinzu kommen neue Schauplätze wie die Werkstatt des Grossvaters oder der Plaun Vitg, der Dorfboden im Wald oberhalb der Häuser, wo das Unglück damals passiert ist.
Erinnerungen wie Super-8-Filme
Jeder dieser Orte weckt in ihm Erinnerungen. Dabei versucht er, nachzuempfinden, was die Kinderleichen damals mit den Menschen gemacht haben.
Die Bilder laufen in ihm ab wie Super-8-Filme: Die Sonntage mit dem Vater auf dem Maiensäss, die Jassabende mit der Grossmutter, das Spielen im Wald, die Nacht, in der sich der Onkel erschossen hat – und die wunderbare Zeit, die er jetzt, als 42-Jähriger, mit seiner eigenen Tochter erlebt.
Immer wieder läuft es auf dasselbe hinaus: «Es ist nicht natürlich, dass dein Kind vor dir stirbt.» Nie mehr ist der Frieden zu denen zurückgekehrt, die das Unglück miterleben mussten.
Unerträglich erträgliche Tragödie
Der Lesende spürt die Wirkung dieser Erzähltechnik. Die Erinnerungen an die Dorfbewohnerinnen und an die Stimmungen und Erlebnisse der eigenen Kindheit verweben sich immer enger mit den schrittweise enthüllten Umständen des Unglücks, das er selber ja noch gar nicht erlebt hat.
Er schreibt sich die ungelebten Leben der drei toten Kinder sozusagen ins eigene Leben hinein. Die Tragödie wird so ins Erlebbare gerückt und zugleich unerträglich und erträglich gemacht. Das geht nicht ganz ohne Rührseligkeit – ist aber doch ein starkes Stück.