Wer vergessen wird, stirbt. So unerbittlich ist das Gesetz, das die Metropole beherrscht, in der Manel Naher lebt. Überleben kann nur, wer «präsent» ist, wer die Aufmerksamkeit der anderen auf sich und seinen Namen lenkt.
Gewissen Menschen fällt das leicht, und sie schwelgen im Luxus. Andere müssen in den Gassen um Aufmerksamkeit buhlen und betteln, damit sie nicht sterben.
Die Strassen, Plätze und Hochhäuser sind mit Schildern zugepflastert – nicht mit Firmenlogos und Werbung, sondern mit Namensschildern von Menschen, die sich diese Form von Eigenwerbung leisten können.
Ein mörderischer Sommerhit
Manel Naher, eine unbekümmerte junge Frau, schert sich keinen Deut um das fragwürdige ökonomische System. Die Idealistin begnügt sich mit dem lebensnotwendigen Minimum an «Präsenz» und plant vielmehr ihren Ausbruch aus der Stadt.
Mit einem Freund will sie das mysteriöse Gebiet erkunden, das die Stadt umgibt: die sogenannte «Grosse Leere», aus der noch nie jemand zurückgekehrt ist.
Manel Naher hat jedoch ein Problem: Eine gleichnamige Popsängerin erobert mit ihrem Hit «Mein Name ist in aller Munde» die Charts. Von da an monopolisiert die prominente Namensvetterin die gesamte Aufmerksamkeit für den gemeinsamen Namen.
Manel Naher wird schwächer und schwächer. Trotz der Unterstützung ihrer Familie und einer Aufmerksamkeitstherapeutin nähert sie sich dem Tod.
Jagd auf Klicks und Likes
Selten wurde ein Debüt in Frankreich so gefeiert wie Léa Murawiecs «Die grosse Leere». Die junge französische Comicautorin hatte sich zuvor mit kurzen Geschichten in alternativen Comic-Zeitschriften und im Eigenverlag veröffentlichten Publikationen einen Namen als vielversprechendes Talent gemacht.
«Die grosse Leere» ist ihre erste Graphic Novel, fulminante 200 Seiten lang. Die vielschichtige Dystopie umkreist mit satirischem Biss und schwarzem Humor wesentliche Themen unserer Zeit. Die lebensbedrohliche Aufmerksamkeitsökonomie ist eine originelle Metapher für die sozialen Medien und unsere Abhängigkeit von Klicks und Likes.
Murawiec wirft aber auch Fragen auf nach Identität, Egozentrik und Eigennutz – nach dem Wert von Prominenz, und nicht zuletzt nach dem Platz und der Bedeutung des Individuums im anonymen Kollektiv.
Skrupellose Prominenz
Manel Naher wehrt sich nämlich gegen Siechtum und Tod – allerdings nicht wie geplant durch die Flucht in die grosse Leere, sondern indem sie fortan das Spiel um die Aufmerksamkeit skrupellos mitspielt.
Während ihr Freund allein in die grosse Leere aufbricht, opfert sie ihre Ideale und Träume: Sie wird selbst zum omnipräsenten Promi, in dessen Schatten andere Menschen – nicht zuletzt ihre Familie – die lebensnotwendige Aufmerksamkeit und «Präsenz» verlieren.
Innerlich aber wird Manel Naher wegen ihrer Selbstbezogenheit immer leerer. Bis sie sich am Schluss an ihren alten Traum erinnert: die grosse Leere.
Schwindelerregende Welt
Diese Prozesse setzt Léa Murawiec in schwungvollen Zeichnungen um: Sie reizt die Anatomie ihrer Figuren aus und verleiht ihnen eine atemlose Dynamik.
Die Perspektiven der Strassenschluchten sind ebenso schwindelerregend wie klaustrophobisch. Mit einer limitierten Farbpalette aus Blau, Rot und Dunkelviolett schafft sie eine erstaunliche Räumlichkeit.
«Die grosse Leere» ist ein Debüt von beeindruckender inhaltlicher wie gestalterischer Stilsicherheit und Reife.