Ein Winter im heutigen London. Alles ist grau, kalt, feucht und schlecht gelaunt, sogar die Schneeflocken. Besonders missmutig stapft Cassandra Darke durch die Kälte.
Die Betrügerin und eine Möchtegernkünstlerin
So beginnt der neue Comic «Cassandra Darke» von Posy Simmonds. Die Hauptfigur ist eine betrügerische Kunsthändlerin, die ihr Geschäft mit gefälschten Skulpturen ankurbelte, bis sie überführt wurde. Nun wird sie von der Kunstwelt geächtet.
Cassandra Darke bezeichnet sich selber als alt und fett. Genauer: Sie ist 71, reich, geizig, menschenfeindlich und übergewichtig. Sie trägt eine unförmige Parka und eine russische Pelzmütze. In einer Villa im Nobelviertel Chelsea lebt sie alleine, bis sie der Tochter ihres Ex-Manns Unterschlupf gewährt. Ab jetzt lebt die Möchtegernkünstlerin Nicky in der Einliegerwohnung.
Quereinsteigerin
Die 74-jährige Autorin und Zeichnerin Posy Simmonds ist die Grande Dame der britischen Comicszene. Seit über vierzig Jahren zeichnet sie Kinderbücher und Karikaturen für die linksliberale Tageszeitung «The Guardian».
Zum Comic fand sie eher spät. Mit «Gemma Bovery» und «Tamara Drewe» legte sie jedoch zwei ausserordentliche, literarisch grundierte Graphic Novels vor. Beide ergründen die Abgründe der Mittelklasse und wurden mittlerweile verfilmt.
Jetzt hat sich Posy Simmonds die britische Upper Class und Kunstschickeria vorgenommen. Erfolgreich verknüpft sie auch hier die Genauigkeit der Karikatur mit der klassischen Kinderbuchillustration.
Damit verleihen ihre Zeichnungen den Figuren einen zunächst harmlosen, freundlichen Anstrich. Umso tiefer ziehen sie uns dann aber in ihre moralischen Abgründe.
Die Knarre im Mülleimer
Solche Abgründe hat es in «Cassandra Darke» viele: Simmonds entfaltet ein bissiges Panorama des modernen Grossbritanniens, in welchem die sozialen Gegensätze und die Generationengräben immer tiefer werden.
Auch wenn der Brexit nie angesprochen wird, wird hier die Gesellschaft karikiert, die diesen Schlamassel überhaupt ermöglicht hat.
Nicky tritt das Drama los, als sie in einer Bar an den falschen Typen gerät, einen übergriffigen Kriminellen. Statt ihrer Handynummer gibt sie ihm die von Cassandra. Diese hält seine obszönen SMS und Penisbilder zunächst für Racheakte betrogener Kunden und Künstler.
Erst als sie in Nickys Mülleimer eine Pistole findet, ahnt Cassandra, dass Dinge ablaufen, die sie nicht versteht. Hier mutiert Satire zum schwarzhumorigen Krimi. Die Verwirrungen führen Cassandra an die Ränder der Gesellschaft, bis in die Sozialbehausungen illegaler Einwandererinnen.
Überraschend bis zum Schluss
In «Cassandra Darke» verknüpft Posy Simmonds auf virtuose Weise ein grosses Figurenensemble, mehrere Zeitebenen und Erzählperspektiven. Um der Komplexität der Geschichte und ihrer Figuren gerecht zu werden, verbindet Simmonds Text und Bild anders als im klassischen Comic.
Zwischen Bildfolgen stellt sie erzählende Textpassagen. Neben Dialogen und Monologen arbeitet sie auch mit Emails und SMS und baut Zeitungsartikel und Internetseiten ein.
«Cassandra Darke» ist im wahrsten Wortsinn ein graphischer Roman. Oder anders gesagt: Es ist die etwas andere Weihnachtsgeschichte, spannend und unterhaltsam zugleich, und mit überraschender moralischer Volte am Schluss.