Die Lektüre von Hilary Mantels Büchern über Thomas Cromwell ist eine paradoxe Lese-Erfahrung: Obwohl man es bereits weiss, will man wissen, wie es weitergeht.
Wenn der Atem stockt
Der zweite Band «Falken» endete mit dem Cliffhanger der Hinrichtung von Anne Boleyn. Der Dritte stürzt uns gleich auf den ersten Seiten mitten in die grausige Szene: Anne Boleyn wird geköpft, und wir schnappen nach Luft.
Thomas Cromwell setzt als Minister in die Tat um, was sein König wünscht. Skrupellos, manipulativ und hellsichtig verschafft er Henry nicht nur seine Ehefrauen, sondern ermöglicht es ihm auch, England aus dem Machtbereich der katholischen Kirche zu lösen und Oberhaupt einer eigenen Kirche zu werden.
Spiel mit der Erzählperspektive
Warum packt uns diese Geschichte, die Hilary Mantel auf insgesamt über 2500 Seiten erzählt, obwohl wir sie kennen? Die Autorin erreicht dies mit zwei literarischen Stilmitteln: Zum einen durch das Präsens, das die Ereignisse aus dem 16. Jahrhundert in erlebte Gegenwart verwandelt.
Zum anderen durch ein raffiniertes Spiel mit der Erzählperspektive. Wir erleben diese Umbruchszeit aus der Position eines Mannes, der die Ereignisse zugleich steuert und von ihnen mitgerissen wird. Das alles beherrschende «Er» der dritten Person geht dabei nur haarscharf an einer Ich-Erzählung vorbei.
Am Ende wieder eine Enthauptung
Weil Hilary Mantel uns in Thomas Cromwells Kopf schauen lässt, wird er zu einer Romanfigur. Er ist ein Mann, der in jedem Moment weiss, was er tut: Wenn er kann, handelt er dabei durchaus menschlich. Wenn die Lage es erfordert, schreckt er jedoch vor keiner Unbarmherzigkeit zurück.
Im letzten Band werden wir Zeuge seines eigenen Niedergangs: Auf dem Höhepunkt seiner Karriere verliert er die Gunst seines Königs und damit, wie so viele vor ihm, auch sein Leben. Das Buch, das 1536 mit der Hinrichtung von Anne Boleyn begonnen hat, endet vier Jahre später mit Cromwells eigener Enthauptung.
Mit filmischer Sprache
Wie in einer Netflix-Serie verzahnt Hillary Mantel Plot-Linien. Sie jongliert mit einer solchen Vielzahl von Figuren, dass man beim Lesen manchmal den Überblick verliert – trotz Stammbäumen und Figureninventar im Anhang.
Den Lesegenuss trübt dies allerdings kaum. Dieser speist sich aus dem filmischen Schreiben und den sprachlichen Bildern, mit denen die Autorin uns immer wieder überrascht. «Er holt Luft und geht, den Nacken gebeugt wie ein Ochse unter dem Joch seiner Zukunft, zurück an seine Aufgaben», heisst es etwa, als Henry die Todesurteile seiner Frau Anne Boleyn und vier ihrer angeblichen Liebhaber unterschreibt.
Abschluss eines ambitionierten Romanprojekts
Trotz des Umfangs von 1100 Seiten ist die Sprache auch in diesem dritten Band verdichtet, die Dialoge virtuos auf Pointen hin geschrieben.
«Der König macht nie etwas Unangenehmes. Das macht Lord Cromwell für ihn», sagt Jane, Henrys dritte Frau. Die Bemerkung wirft nicht nur auf Cromwell ein Schlaglicht, sondern auch auf die Frau, die sie ausspricht. Gerade, weil Frauen in dieser höfischen Welt nur ein Mittel zum Zweck sind, lässt Mantel sie als eigenständige Figuren zu Wort kommen.
Cromwell wiederum behält noch in den Verhören im Tower seine Schlagfertigkeit und damit, trotz allem, unsere Sympathie: «Dachten Sie, Sie wären Gott?» «Nein, Gottes Spion.»
Hilary Mantels Cromwell-Trilogie ist eines der grossen Romanprojekte unserer Zeit.