Daniel Glattauer erzählt seine Liebesgeschichten bevorzugt auf ungewöhnliche Weise. In «Gut gegen Nordwind» schrieb er über die Romanze zweier Menschen im digitalen Zeitalter und entwickelte damit ein eigenes Genre, den E-Mail-Roman.
In seinem neuen Roman «In einem Zug» sitzen sich zwei Menschen schräg in einem Viererabteil gegenüber und kommen ins Gespräch. Während der ganzen Zugfahrt sprechen die beiden über ihre Liebesgeschichten. Wenn man so will: ein Roman wie ein Podcast.
Autor trifft auf Therapeutin
Mit E-Mails und Podcasts haben der Ich-Erzähler Eduard Brünhofer und sein Gegenüber Catrin Meyr aber gerade so gar nichts zu tun: «Die Frau und ich tun schräg gegenüber voneinander seit gut fünfzehn Minuten tatsächlich nichts. Das ist revolutionär.» Sie streamen keine Filme, hören keine Musik und können deshalb ins Gespräch kommen.
Abgesehen von dieser Gemeinsamkeit könnten die beiden aber kaum unterschiedlicher sein. Meyr ist «frühen mittleren Alters», Physio- und Psychotherapeutin – Brünhofer ein älterer Mann und Autor von Liebesromanen. Er befindet sich in einer Schaffenskrise und schuldet seinem Verlag einen Roman. Während ihm ein unangenehmes Treffen mit Verlagsvertretern bevorsteht, besucht sie in München ihre Affäre.
In die Enge getrieben
Schon bald wechseln die beiden zum vertraulichen Du. Wie ein Podcast-Host befragt Catrin ihr Gegenüber, und aus Unverfänglichkeiten über seinen schriftstellerischen Erfolg werden immer intimere Fragen: «Wie ist das bei dir, wenn du so eine intime Liebesszene schreibst? An wen denkst du da?» Catrin treibt Eduard in die Enge. Er windet sich und fragt auch zurück. Immer mehr geben die beiden von sich Preis und erzählen sich ihre Liebesgeschichten.
Ein Podcast über Bücher und die Welten, die sie uns eröffnen. Alle zwei Wochen tauchen wir im Duo in eine Neuerscheinung ein, spüren Themen, Figuren und Sprache nach und folgen den Gedanken, welche die Lektüre auslöst. Dazu sprechen wir mit der Autorin oder dem Autor und holen zusätzliche Stimmen zu den Fragen ein, die uns beim Lesen umgetrieben haben. Lesen heisst entdecken. Mit den Hosts Franziska Hirsbrunner/Katja Schönherr, Jennifer Khakshouri/Michael Luisier und Felix Münger/Simon Leuthold. Mehr Infos: www.srf.ch/literatur Kontakt: literatur@srf.ch
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Sie steht Langzeitbeziehungen skeptisch gegenüber, er wiederum ist seit vielen Jahren «glücklich verheiratet» und verteidigt seine Ehe gegen ihre kritischen Fragen. Ihr Gespräch dreht sich auch um Beziehungsformen, um Freiheit und Geheimniskrämerei in Beziehungen.
Misslungene «Lächelanalyse»
Zwei gegensätzliche Figuren in ein Gespräch über die Liebe zu verwickeln und die Liebesgeschichten dadurch indirekt zu erzählen – das besticht als Grundidee des Romans. Ausserdem sind die Dialogpassagen durchsetzt mit Eduards Überlegungen, die teils als amüsanter Kontrast oder Kommentar zum Gespräch überzeugen.
Häufiger sind Eduards Einschübe aber bemühend zu lesen. Pseudolustig sind zwei skizzierte Projekte, die er seinem Verlag präsentieren will. Auch seine Gedanken über Wutausbrüche auf der Autobahn oder über «heikle» Gespräche mit «peripher bekannten Personen» sind vor allem platt. Komplett misslungen ist schliesslich Eduards «Lächelanalyse», in der er Catrins Lächeln klassifiziert, und die weite Teile des Romans durchzieht.
Glattauers Ironie gegenüber seiner Hauptfigur rettet solche Passagen ebenso wenig wie die eigentlich vielversprechende Ausgangslage zweier Fremder im Zugabteil. So fühlt man sich beim Lesen tatsächlich wie bei einer Zugreise: Phasenweise ist das unterhaltsam, häufiger aber ermüdend – und am Ende ist man froh, dass die Fahrt vorbei ist.